Schilf im Sommerwind
Martha’s Vineyard lebte. In Gay Head, genauer gesagt. Und so hatte sich Sam aufgemacht, sie zu suchen, und sie in der Brandung von Zacks Cliff beim Schwimmen entdeckt, nackt.
»Und wie bist du auf Martha’s Vineyard gelandet?«, fragte Dana nun.
»Martha’s Vineyard?« Er errötete noch stärker. »Ich habe in Woods Hole graduiert, gegenüber vom Vineyard Sound. Da war der Besuch dieses bekannten Urlaubsparadieses unvermeidlich.«
»Ach so.« Dana lächelte.
»Wir wohnten in Gay Head«, fuhr sie fort. »Martha’s Vineyard ist sehr idyllisch, die ganze Insel, aber Gay Head hat etwas … Magisches. Lily fand es ebenfalls wunderschön. Vor allem das kleine Haus mit Blick über die Moorlandschaft bis hinunter zum Meer. Der Lichtstrahl des Leuchtturms schweifte über die Hauswände und drang durch unsere Fenster. Als ich beschlossen hatte, meine Zelte abzubrechen, hielt Lily die Stellung. Dort haben Mark und sie sich ineinander verliebt. Und Quinn wurde dort gezeugt und nach dem Ort benannt.«
Sam wartete und beobachtete das Wechselspiel der Empfindungen, die über Danas Gesicht huschten.
»Aquinnah«, sagte sie. »Der alte indianische Name für Gay Head.«
»Bist du jemals auf die Insel zurückgekehrt?«
Dana zuckte die Achseln, senkte den Kopf. »Ein paar Mal, um Lily zu besuchen. Nicht oft genug.«
»Nein?«
»Quinn wurde dort geboren. Lily und Mark versuchten, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Lily konnte überall arbeiten, was die Malerei anging. Mark dagegen war Geschäftsmann. Er kaufte und verkaufte Immobilien – aber nicht auf Martha’s Vineyard.«
»Kann ich mir denken, die Immobilien auf der Insel waren bestimmt unerschwinglich!«
Dana lachte. »Nein, Lily ließ ihn nicht. Seine Bauträgerfirma kaufte und erschloss Land, aber sie konnte nicht mit ansehen, dass jemand die Insel verschandelte. Deshalb –«
»Redet ihr über meine Insel?« Quinn betrat die Terrasse, eine zum Palstek geknotete Nylonschnur in der Hand.
»Du hast es erraten.« Dana legte den Arm um sie. Sam sah sie an, Tante und Nichte. Ihre Gesichtszüge ähnelten sich, beide hatten hohe Wangenknochen und wunderschöne große Augen. Ihre Haare leuchteten, trotz der unterschiedlichen Frisur, in dem gleichen kastanienbraunen Farbton. Nach der Segelpartie, die sie heute unternommen hatten, glitzerten Salzkristalle in Danas eleganten Wellen und Quinns ungezählten, abstehenden Zöpfen.
»Martha’s Vineyard«, sagte Quinn und ließ sich auf dem blauen Steinboden der Terrasse nieder. »Dort bin ich geboren. Und dort habe ich gehen und sprechen gelernt. Ich wurde Aquinnah genannt, nach dem Teil der Insel, um den sich die meisten Geheimnisse ranken.«
»Ich weiß.« Sam erinnerte sich, dass Dana das Wort ›magisch‹ gebraucht hatte.
»Irgendwann werde ich dorthin zurückkehren«, sagte Quinn. Ihre Worte klangen wie ein Gelöbnis, an den Sund gerichtet, und an den fernen Ort, an dem ihre Eltern weilten. »Ich möchte den Platz sehen, wo es mit mir angefangen hat.«
»Ja, irgendwann.« Dana stand von der Bank auf. Sie blickte in Richtung Westen, auf den dunkelroten Streifen über den Bäumen am Little Beach. Dort stand die Mondsichel am Himmel, wiegte den Abendstern in ihrer violetten Umarmung. Sam schluckte; er hatte sie bei der Betrachtung eines anderen Sonnenuntergangs beobachtet, als die Klippen von Gay Head ihr Feuer wie Juwelen im schwindenden Licht versprüht hatten. Er hätte es ihr gerne erzählt, aber in Quinns Gegenwart nahm er lieber Abstand davon.
»Habt ihr Hunger?«, fragte Dana. »Soll ich Abendessen machen?«
»Ja! Aber bloß keine Hotdogs!«, stöhnte Quinn.
»Okay.« Lachend ging Dana in die Küche, um nachzusehen, was im Haus war.
Sam schickte sich an, ihr zu folgen, aber Quinn hielt ihn zurück. Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrer Tasche und breitete es auf seinem Schoß aus. Sam sah, dass es eine Karte war. Sie hatte eine Windrose gezeichnet, die Konturen vom Festland, eine Glockenboje und eine grüne Tonnenboje.
»Dort ist es passiert.«
»Aha«, sagte Sam.
»Das ist Hunting Ground – so wird die Stelle genannt. Da draußen, hinter den Wickland Shoals.« Quinn zeigte auf den Sund. »Die reichsten Fischgründe zwischen hier und Orient Point, behaupten die Fischer. Dort ist das Boot meiner Eltern untergegangen.«
»Wo befindet es sich jetzt?« Sam blickte die stacheligen Zöpfe auf ihrem Kopf an.
»Noch immer auf dem Meeresgrund. Man hat nur ihre Leichen geborgen.« Quinns
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