Schilf im Sommerwind
erkundigte sich Sam, der den gleichen Gedankengang hatte.
»Oh, so eine Art betreutes Wohnen in der Nähe von Cincinnati. Ich weiß nicht viel darüber, aber Lily war stolz auf dieses Projekt. Die Anlage hatte einen ungemein positiven Aspekt – ein bisschen von der New-Age-Bewegung beeinflusst oder so. Sie sagte, Seniorenheime können eine bedrückende Atmosphäre haben, auch wenn sie noch so gemütlich aussehen – ein Abstellgleis, wo alte Menschen auf den Tod warteten. Das Sun Center sollte dagegen ein Ort sein, an dem alte Menschen aufleben.«
»Lily war
sehr
stolz darauf«, bestätigte Dana. »Sie erzählte mir davon.« Sie versuchte, sich an Einzelheiten zu entsinnen. Lily hatte Marks Projekt erwähnt, als ihre Mutter in die Marshlands-Apartments gezogen war. »Ich wünschte, Mom könnte in eine solche Einrichtung gehen«, hatte sie gesagt. »Dort gibt es Yogakurse, Pool und Sauna im Haus, einen Meditationsraum und hauseigene Bewegungstherapeuten.«
»Klingt nach Kurort«, hatte Dana lachend erwidert.
»Ja, und tausendmal besser als ein Besuch der Canyon Ranch oder irgendeiner anderen Schönheitsfarm.«
»Darf man Hunde mitnehmen? Sie würde sich nie von Maggie trennen …«
»Gab es da ein Problem?«, fragte Patricia, aber allem Anschein nach neugierig, den Grund für Danas und Sams Besuch zu erfahren.
»Nein, nein«, beteuerte Dana. »Ich versuche nur, die einzelnen Bausteine zusammenzusetzen, damit ich mir ein Bild machen kann …«
»Er war im letzten Jahr oft unterwegs.« Patricia schüttelte den Kopf. »Ich rede mir ein, es sei ein Segen, dass Lily und er zusammen waren, als es passierte, aber die Kinder …«
»Ich weiß.«
»Lily brachte sie oft mit. Manchmal kamen sie in meinen Laden, und sie erzählte ihnen von der alten Dame, die dort für ein paar Penny Süßigkeiten verkaufte.«
»Miss Alice.«
»Ja, so lautete ihr Name. Ich bin nicht in Black Hall geboren und aufgewachsen, aber Lily sagte, diese Miss Alice sei schon zu Lebzeiten eine Legende und ihr Kolonialwarenladen für die Kinder das reinste Schlaraffenland gewesen. Sie zeigte mir das Medaillon, das sie immer trug, ein silbernes, das aus diesem Laden stammte.«
»Ein Geschenk von mir.« Dana spürte, wie ein Schauer über ihren Rücken lief.
»Auf der einen Seite befand sich Ihr Bild, auf der anderen ein Foto ihrer Töchter. Hübsch waren sie, die Mädchen, und wenn ich sah, wie sie ihr bei der Gartenarbeit halfen, dachte ich oft, das ist eine wundervolle Familie, richtige Glückspilze. Wie geht es den beiden?«
Dana öffnete den Mund, aber die Frage zu beantworten überstieg ihre Kräfte. Sam trat einen Schritt vor, wobei sein Arm ihren streifte, und seine Stimme klang leise und ruhig. »Es geht ihnen gut. Sie leben jetzt bei ihrer Tante, und das ist ein Segen.«
»Da bin ich aber froh«, sagte Patricia. Und dann, als spürte sie, dass Dana und Sam eine Weile alleine sein wollten, verabschiedete sie sich. »Machen Sie einfach die Tür hinter sich zu, wenn Sie gehen«, sagte sie. »Und lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen, ja?«
»Okay, danke«, erwiderte Sam.
Dana trat ans Fenster, um Lilys Wandmalerei, den Blumenfries, zu betrachten. Die Blüten streckten sich der hohen Decke entgegen, entfalteten ihre Pracht auf den blassgrünen Ranken.
»Sie sind so zart, dass man sie kaum sieht«, sagte Sam.
»Sie fügen sich beinahe nahtlos in die gelben Wände ein.«
»Warum hat sie auf diese Weise gemalt?«
Dana dachte an Lilys Miniatur-Aquarelle in der oberen Diele ihres Hauses und an ihre eigenen großflächigen Bilder, die in kühnen Farben gehalten waren. Sie verglich Lilys Leben als Ehefrau und Mutter mit ihrem als Künstlerin, die es nie lange an einem Ort hielt. »So war sie«, erwiderte Dana ruhig. »Sie fügte sich ein. Andere standen für sie immer an erster Stelle, sie hatte nie das Bedürfnis, im Rampenlicht zu stehen.«
»Aber sie war trotzdem brillant! Alle liebten und bewunderten sie, sonnten sich in ihrem Glanz.«
»Das war ihr Geheimnis.« Dana dachte an das Lächeln ihrer Schwester. »Bei ihr kam der Glanz von innen.«
»Das stimmt.« Sam nickte. »Das fiel mir schon bei unserer ersten Begegnung auf.«
Dana drehte sich um und sah ihn an. Er war groß und attraktiv, gedankenvoll und darauf bedacht, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und bei seinem Anblick schlug ihr Herz schneller. Seine Einfühlsamkeit wirkte beschwichtigend und beruhigend. »Woher willst du das wissen? Du warst damals
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