Schilf im Sommerwind
Welt. Ihre Mutter hatte Vorhängen zum Glück nichts abgewinnen können. Sie hatte Licht, Luft und die herrliche Aussicht geliebt, so dass fast nirgendwo welche hingen. Während Quinn durch das Haus wanderte und Bilder, Fotos, Bücher und die Urne mit der Asche inspizierte, erhellten Sonnenstrahlen ihren Weg.
Jetzt die Treppe nach oben, in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Es wurde von niemandem mehr betreten. Quinn setzte sich auf das Bett – zuerst auf die Seite ihres Vaters, danach auf die Seite ihrer Mutter. Der Überwurf war alt und fadenscheinig, ein handgearbeiteter Quilt, der noch von ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits stammte. Quinn legte den Kopf auf das Kopfkissen, schloss die Augen und atmete tief ein. Der Geruch ihrer Mutter – nach Zitronenshampoo, Sonnenschutzmittel und Zahnpasta mit Minze-Geschmack – war im Lauf der Zeit verflogen. Quinn beschloss, zumindest teilweise Abhilfe zu schaffen: Sie lief ins Bad, drückte einen Klecks Shampoo auf den einen und Zahnpasta auf den anderen Finger und verrieb sie auf dem Kopfkissen – na also, schon viel besser!
Sie prägte sich alles ein, was auf dem Nachttisch ihrer Mutter lag: ein Stapel Bücher, ein paar Zeitschriften, jede Menge Briefe von Tante Dana, ein Adressbuch und eine kleine Kristallkugel, die zu den Dingen gehörte, die Quinn mehr liebte als alles andere auf der Welt. Einer Schneekugel ähnlich, enthielt sie eine Meerjungfrau mit langen roten Haaren und einer grünen Schwanzflosse, und wenn sie geschüttelt wurde, wirbelten nicht Schneeflocken, sondern winzige Fische darin umher.
Quinn lachte, genau wie damals, als sie klein gewesen war und ihre Mutter die Kugel geschüttelt hatte, während sie den Zauberspruch aufsagte: »Kleine Meerjungfrau, sag mir nun, was soll ein Mädchen wie ich nur tun?«
Getröstet setzte Quinn ihren Streifzug fort. Sie öffnete den Schrank, stöberte in den Kleidern ihrer Eltern. Die Anzüge und Sakkos ihres Vaters hingen auf der einen, die Röcke und Hosen ihrer Mutter auf der anderen Seite. Quinn mochte den Schrank nicht besonders: Grandma hatte überall Mottenkugeln aufgehängt.
Nun kam der Nachttisch ihres Vaters an die Reihe – der ordentlicher war als der ihrer Mutter –, mit einem zur Hälfte gelesenen Buch von John le Carré, einem gerahmten Foto von ›seinen Mädels‹ und, was ihr am besten gefiel, dem Glas Wasser, das er am Abend vor seinem Tod getrunken hatte. Da es verdunstete, füllte sie es ständig bis zur selben Marke auf, ungefähr zwei Finger breit über dem Boden.
Die Spiegelkommode war eine wahre Goldmine, hier konnte sie die Verbindung zu ihren Eltern am stärksten spüren: in den Kleidern, in den Papieren und in der Schublade für den Krimskrams, die angefüllt war mit Erinnerungen und Schätzen. Doch für den Moment musste sie die Spiegelkommode aussparen. Sie hatte dringlichere Dinge zu erledigen, bevor Tante Dana nach Hause kam, und Eile war geboten. Ihr blieb nicht einmal genug Zeit, sich die Fotos und das Bild anzuschauen, das Mom vom Honeysuckle Hill gemalt hatte. Die Schmuckschatulle kam als Letzte an die Reihe.
Quinn betrachtete den Deckel. Schwarz lackiert und mit Einlegearbeiten aus Blattgold, einem Pflaumenbaum am Ufer eines sanft gewundenen Flusses, hatte sie ein defektes Schloss. Warum sie überhaupt hineinsah, hätte Quinn nicht sagen können. Ihr Herz wurde jedes Mal schwer, als sie den Deckel öffnete.
Diamanten und Perlen, alles vom Feinsten.
Die Perlen, die ihre Mutter zum sechzehnten Geburtstag bekommen hatte, die Diamantohrringe, ein Geschenk ihres Mannes zum zehnten Hochzeitstag. Weitere Ohrringe, nur wenige, ein Klassenring, einige Schmuckstücke, die eine Schmuckdesignerin und Freundin ihrer Mutter an der RISD gemacht hatte, die Anstecknadel mit Quinns und Allies Geburtssteinen, ein Glücksbringer und Präsent ihres Mannes zum Muttertag.
Quinn blickte in die Schmuckschatulle, auf all die Schätze, die sie enthielt. Sie spürte, wie die Hochstimmung sie nach und nach verließ, und fragte sich, warum sie stets betrauerte, was sie verloren hatte, statt sich über das zu freuen, was ihr geblieben war. Während sie den Daumen über die glatten Steine in der Anstecknadel gleiten ließ, erinnerte sie sich daran, wie schön sie es gefunden hatte, wenn ihre Mutter sie trug.
»Scheiße, verdammte!«
Die Stimme gehörte zu ihr, genau wie das Trampeln der Füße, als sie die Treppe hinunterlief. Nichts wie weg, zur Tür hinaus, durch den Garten, um den
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