Schilf im Sommerwind
noch ein Kind.«
Sam trat näher. Ihre Zehen berührten sich fast, und sie musste den Kopf in den Nacken legen, um seinen Blick zu erwidern. »Weißt du das nicht, Dana? Kinder haben mehr als jeder andere die Fähigkeit, in das Innerste eines Menschen zu schauen.«
Sie blinzelte und spürte, wie er ihr das Haar aus der Stirn strich. Mit ihren Shorts und den alten zerknitterten Laufschuhen kam sie sich in seiner Gegenwart selber wie ein Kind vor. Er bot dagegen das Bild eines Mannes, der in Yale lehrt: tadellos gebügelte Baumwollhosen, blau gestreiftes Hemd, braune Slipper. Die Geste war so liebevoll, dass sie die Augen schloss und sich der Berührung hingab.
»Du kanntest Lily«, flüsterte sie. Diese Tatsache verband sie. Sie standen so nahe beieinander, dass ihre Haut zu prickeln begann. So etwas hatte sie seit Jon nicht mehr gespürt, und sie fühlte sich machtlos dagegen, obwohl ihre Alarmglocken schrillten.
»Und ich kenne dich. Ich bin deinetwegen hier, Dana.«
Dana ballte die Fäuste. Sie wollte glauben, dass Sam treu und verlässlich war und eine Frau nicht verlassen würde, weil sie um ihre Schwester trauerte. Aber was war, wenn sie sich in ihm täuschte? Wenn er sie genauso verletzte wie Jonathan? Ein zweites Mal würde sie das nicht durchstehen. Als sie reglos dastand, wie gelähmt durch das Gefühl des Verlustes und der Verwirrung, das sie empfand, sah sie, wie er den Blick hob und Lilys Wandmalerei genauer in Augenschein nahm.
»Was ist?«
»Schau doch mal, da oben.« Er deutete auf die Ranken und Blüten über dem Fensterrahmen. »Sieht aus wie eine Inschrift.«
Er räumte die Tapeten-Musterbücher beiseite, trug die alte Bank zum Fenster hinüber und reichte Dana die Hand, als sie hinaufkletterte. Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um etwas zu erkennen. Als sie noch näher an die Wand heranrückte, wobei sie Sams Hand umklammerte und auf den Zehenspitzen balancierte, sah sie, dass Lily Worte in die Blüten und Blätter eingewoben hatte: ›Für Mark Grayson, den ich liebe‹. ›Für Aquinnah und Alexandra, die besten Töchter der Welt‹. ›Für Dana: Schwestern sind unzertrennlich – komm nach Hause!‹ ›Für Süßigkeiten und silberne Medaillons: danke, Miss Alice!‹ ›Für die Meerjungfrauen vom Little Beach‹. Außerdem stand unter einem kleinen Bündel Trauben ›Martha’s Vineyard‹ geschrieben. Und unter Geißblatt-Girlanden die beiden Worte ›Honeysuckle Hill‹.
»Was ist, Dana?« Sam spürte, wie ein Zittern sie durchlief und auf seinen eigenen Körper übergriff.
»Sie war glücklich.« Danas Stimme brach.
»Wie kommst du darauf?«
»Sie schreibt es, hier.« Durch den Tränenschleier las Dana die Inschriften wieder und wieder. Es war, als hätte Lily eine Kurzbiografie auf der Wand über dem Fensterrahmen aus Eiche verfasst. Ihre Familie war ihr Leben gewesen, ihr Herz war voller Liebe und Heiterkeit.
»Offenbar hatte sie alles, was man sich nur wünschen kann«, sagte Sam und las die Worte, die sie hinterlassen hatte.
»Das stimmt.« Dana war blind vor Tränen. Sie streckte die Hand aus, und Sam half ihr von der Bank herunter. Sie standen nebeneinander, in die Betrachtung der Inschrift versunken. Er legte die Arme um ihre Schultern, aber sie zuckte zurück. Sie hatte das Gefühl, am Rande eines Abgrunds zu stehen, ähnlich dem, der Lily verschlungen hatte, doch plötzlich drehte sie sich um und klammerte sich an Sam.
»Oh, Dana.«
Obwohl innerlich eiskalt, zitterte sie, als sie Sams Arme spürte, die sie umfingen. Er kennt Lily, dachte sie. Er hat mit ihr gesprochen, hat sie beim Segeln erlebt, sie mit Mark im Long Wharf Theatre in New Haven gesehen. Lily war ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, hatte ein Leben auch außerhalb von Danas Vorstellungswelt geführt; das machte ihr Sams Umarmung nun bewusst. Und plötzlich war sie unsagbar froh, dass er bei ihr war.
»Oh, Sam«, schluchzte sie.
»Du hast sie geliebt.«
»Quinn irrt sich.«
»Was meinst du?«
»Sie waren glücklich. Sie haben das Boot nicht absichtlich versenkt, sind nicht gemeinsam in den Tod gegangen. Sie muss unbedingt sehen, was ihre Mutter geschrieben hat.«
Sam antwortete nicht, aber er ließ sie auch nicht los. Er zog sie an sich, als wäre sie noch verletzlicher, seit sie die Worte ausgesprochen hatte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sam sagte ihr, dass sie beide im selben Boot saßen, sich demselben Ziel verschrieben hatten, was bewirkte, dass sie sich sicher und geborgen
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