Schilf im Sommerwind
fühlte, während die Wärme und Stärke seines Körpers ein Chaos in ihrem Herzen anrichtete, das sie noch nicht analysieren wollte.
»Glaubst du nicht, dass sie es sehen sollte?« Dana lehnte sich in seinen Armen zurück. Sie blickte zum Fries hinauf: ›Honeysuckle Hill‹ – der Ort, an dem Mark ihrer Schwester einen Heiratsantrag gemacht hatte. »Sie wird erkennen, dass sie sich in eine fixe Idee verrannt hat, und die abwegigen Vermutungen hinsichtlich des Boots vergessen …«
»Sie kann nicht vergessen, was sie gehört hat.«
Dana trat einen Schritt zur Seite, löste sich von ihm. »Sie hat einen Streit ihrer Eltern mit angehört. Das ist alles.«
»Ich weiß.«
»Alle Erwachsenen streiten. Lily mag der ruhende Pol in ihrer Familie gewesen sein, aber sie war keineswegs die sanfte Dulderin. Ich kann dir versichern, dass ich mehr als einmal eine Kostprobe ihres Temperaments bekommen habe. Quinn hat das missverstanden, Sam. Es war ein ganz normaler Streit, nicht mehr.«
»Ich weiß«, sagte er, Sorge und einen Anflug von Bedauern im Blick. »Aber sie wurde Zeuge dieses Streits, kurz bevor sie ihre Eltern zum letzten Mal sah. Dadurch hat er womöglich eine größere Bedeutung angenommen, als ihm in Wirklichkeit zukommt. Trotzdem wird sie nicht von ihrem Vorhaben ablassen, das Boot zu suchen.«
»Woher willst du das wissen?«
Sam zögerte. Er nahm seine Brille ab und musterte sie stirnrunzelnd. Dann polierte er die Gläser mit seinem Hemdsärmel. »Ich weiß es eben. Ich werde es dir eines Tages er–« Er hatte die Brille wieder aufgesetzt, und sein Blick fiel auf die Wand über dem Fensterrahmen. Dana dachte, er läse Lilys Inschriften, aber sein Blick schien sich auf die Oberkante des Fensterrahmens zu konzentrieren, ungefähr zwei Meter über dem Boden.
Dana sah etwas Metallisches blitzen. Sie hatte sich zuvor so in Lilys Inschriften vertieft, dass es ihr entgangen war. Sam streckte sich, wobei sein Hemd aus dem Hosenbund rutschte und sein bloßer Bauch sichtbar wurde, und tastete nach dem Gegenstand, schob ihn nach vorne, bis er in seine Hand fiel.
Es war ein Schlüssel.
Ein winzig kleiner goldener Schlüssel. Sam hielt ihn einen Moment lang unschlüssig in der Hand, bevor er ihn Dana reichte. Er wog schwer in ihrer Hand, erinnerte sie an Tagebuchschlüssel aus anderen Zeiten. Lily hatte sich schon immer meisterhaft darauf verstanden, ihre Geheimnisse zu hüten.
Doch Dana hatte die Schlüssel und die wechselnden Verstecke immer gefunden. Es war nicht richtig, aber sie hatte es als Vorrecht – nicht als Pflicht – der älteren Schwester empfunden, Lilys Geheimnissen auf die Spur zu kommen, zu wissen, was los war. Sie rechnete es sich als Verdienst an, dass sie nie – fast nie, genauer gesagt – die Einträge gelesen oder den Inhalt erforscht hatte. Es war ihr Befriedigung genug gewesen, die Gedanken ihrer Schwester nachzuvollziehen, ihre Verstecke ausfindig zu machen.
»Wozu mag der passen, was glaubst du?«, fragte Sam.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie langsam.
Dana dachte an Lilys Tagebücher mit Stoff- und Ledereinband, an ihre Schmuckschatulle, die aussah wie eine Aussteuertruhe aus lackiertem Zedernholz in Miniaturformat, ein Geschenk zum Highschool-Abschluss. Der goldene Schlüssel konnte zu beidem passen, aber Dana fiel sofort etwas anderes ein: die alte Angelkiste mit den rostigen Scharnieren und dem relativ neuen Vorhängeschloss aus Messing, die sie hinten im Schuppen entdeckt hatte. Sie war weder so dekorativ noch so zart wie ein Tagebuch, und bei dem Gedanken daran beschleunigte sich Danas Puls wie damals, wenn sie Lilys Verstecke ausfindig gemacht hatte.
Während Tante Dana Lebensmittel einkaufte, Besorgungen machte oder sonst was erledigen musste, sollten Quinn und Allie gemeinsam mit Cameron und June Krebse fangen, aber das war Kinderkram. Mochte Allie doch die Brave spielen: Quinn hatte Wichtigeres zu tun.
Zuerst der Streifzug durch das Haus. Es kam neuerdings selten vor, dass sie ungestört war. Entweder beobachtete Tante Dana sie mit Adleraugen, oder sie instruierte Grandma, diese Aufgabe für sie zu übernehmen. Ihre kleine Schwester war ein lästiges Anhängsel. Wenn Quinn in die Küche ging, folgte ihr Allie wie ein Schatten. Und was sie machte, wenn Quinn beschloss fernzusehen, war nicht schwer zu erraten. Quinn hatte kaum noch Zeit für sich alleine.
Sonnenlicht flutete durch die Fenster. An schönen Tagen war das Haus der sonnigste Ort auf der
Weitere Kostenlose Bücher