Schilf im Sommerwind
noch Zeit, die Kiste wieder auf dem Regal zu verstauen, während Sam das Stemmeisen versteckte. Sie standen dicht beieinander, bemüht, in dem dunklen, leeren Schuppen eine Miene aufzusetzen, als könnten sie kein Wässerchen trüben, als Quinn, Allie, ihre beiden Freundinnen und eine hübsche dunkelhaarige Frau in tropfnassem Badeanzug in der offenen Tür erschienen.
»Krebse haben wir keine gefangen, dafür aber jede Menge Muscheln«, rief Allie.
»Ich hasse Muscheln«, maulte Quinn. »Erwarte ja nicht, dass ich auch nur eine Einzige esse.«
»Keine Bange«, sagte Dana und beugte sich vor, um die Ausbeute zu bewundern.
»Hallo, ich bin Marnie Campbell«, sagte die Frau und trat mit ausgestreckter Hand näher; sie würdigte Dana kaum eines Blickes, sondern fixierte Sam wie eine Seemöwe, die eine Muschel als Beute auserkoren hat. »Lily, Dana und ich waren unzertrennlich, und meine Töchter sind mit Quinn und Allie befreundet. Sie müssen Sam sein.«
»Richtig.« Sam schüttelte ihre Hand. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«
An diesem Abend, aus Gründen, die nicht bestätigt, aber von Dana vermutet wurden, bestand Marnie darauf, dass die beiden Mädchen sie und ihre Familie – die alte Annabelle und ihre Töchter Cameron und June – zum Pizzaessen und anschließend zu einer Partie Minigolf begleiteten. Sosehr Dana vorher auch daran interessiert gewesen war, die Kiste zu öffnen, zögerte sie nun, obwohl sie den seltenen Luxus genoss, Zeit zum Nachdenken zu haben.
Sam blieb zum Abendessen. Dana füllte einen großen Topf mit Butter, Knoblauch, Schalotten, Kräutern und den Muscheln. Sie richtete Käse und Kräcker auf einer Platte an und nahm mit Sam auf der Terrasse Platz.
Die Sonne ging unter, breitete ihr lavendelfarbenes Licht über den Sund und verlieh den Wellen einen goldenen Rand.
»Dir geht alles so leicht von der Hand.«
»Was denn?«
»Muscheln kochen. Du wirfst alles in einen Topf und fertig. Die Mädchen waren selig – hast du ihre Gesichter gesehen, als sie merkten, dass wir ihren Fang tatsächlich essen wollen?«
Dana lachte. »Sie haben sich nur gefreut, dass sie stattdessen Pizza bekommen. Ehrlich gestanden kann ich nichts kochen, was die Einhaltung genauer Mengen oder Garzeiten erfordert.« Sie beobachtete Sam beim Essen und war froh, dass es ihm schmeckte. Sie verspeisten die Muscheln, und als der Wind auffrischte, hoffte sie, dass die Mädchen daran denken würden, ihre Strickjacken anzuziehen.
»Hast du bei diesem Anblick keine Lust zu malen?« Sam deutete auf den Strand und die Wellen.
Dana sah auf ihre Schale hinunter.
»Ich weiß nicht recht.«
»Als ich heute Lilys Fries an der Wand sah – die weißen Blüten und Ranken –, musste ich daran denken, was für eine Schande es ist, ein solches Talent nicht zu nutzen.«
»Alles braucht seine Zeit; irgendwann male ich schon wieder.«
»Was für Farben würdest du für diese Szene verwenden?«
Sie betrachtete nachdenklich die Sonne hinter dem Horizont, die goldenen Strahlen, die in die dunklen Wolken eindrangen. Doch wie immer wurde ihre Aufmerksamkeit vom Wasser abgelenkt, von der Bewegung und geheimnisvollen Anziehungskraft des Meeres, und sie begann, sich die Wassersäule unmittelbar nach Sonnenuntergang vorzustellen. »Ich würde Winsor und Newton’s tiefblauen Purpur benutzen, mit Dunkelblau angemischt; und für das Gold würde ich vielleicht richtiges Blattgold nehmen«, hörte sie sich sagen.
»Und warum tust du es dann nicht?«
»Ich kann nicht, Sam. Bitte frag mich nicht weiter.«
»Ich frage dich nicht, aber ich sage dir etwas. Ich finde, du solltest unbedingt wieder malen. Ich habe deine Bilder in der Galerie gesehen. Sie sind fantastisch, überwältigend! Und das sagt ein Ozeanograph, der sich auskennt! Als ich davorstand, hatte das Gefühl, unter Wasser zu sein, in der euphotischen Zone.«
»In der was?«
»Die euphotische Zone – sie liegt bei etwa zweihundert Fuß, in der Tiefe, wo das Licht gerade noch hinkommt.«
»Genau die male ich. Aber den Namen habe ich noch nie gehört.«
Sam nickte und ließ es dabei bewenden. In der Stille, die zwischen ihnen eintrat, dachte sie an Jonathan. Er hatte sie zum Malen gedrängt, immer wieder, und war dann verstummt, hatte sich in ein Schweigen gehüllt, das die Atmosphäre vergiftete, als hielte er sie für die größte Versagerin aller Zeiten. Sams Schweigen vermittelte ihr ein völlig anderes Gefühl.
»Bist du bereit, den Safe zu knacken?«,
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