Schilf im Sommerwind
er in ihre Richtung blickte. Sie fragte sich, wie gut er im Dunkeln sehen konnte. Plötzlich spürte sie, wie Zärtlichkeit in ihr aufwallte. Sie hätte gerne die Arme um ihn gelegt und ihn wegen des erlittenen Kummers getröstet. Doch stattdessen suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel für ein Schloss, das sie bisher noch nicht gefunden hatte.
Rumer Larkin fuhr in ihrem Jeep vorbei. Obwohl sie früher zu Danas besten Freundinnen gehört hatte, versteckte sie sich nun vor ihr. Als Dana die Taschenlampe wieder anknipste, holte Sam das Stemmeisen.
»Was glaubst du, was wir finden?«, fragte sie. »Köder aus purem Gold?«
»Senkblei aus Sterlingsilber?«
»Einen Schatz für die Mädchen.«
»Na, dann wollen wir mal.« Er setzte die Spitze des Stemmeisens an und versetzte ihm einen heftigen Schlag.
Die Spange zerbrach. Dana rückte mit der Taschenlampe näher. Sie sah Geld in der Kiste, ein dickes Bündel Hundert-Dollar-Scheine, von einem Gummiband zusammengehalten. Darunter lagen mehrere Dokumente, auf dickem Papier gedruckt, jedes mit dem Briefkopf
Sun Center, Inc.
»O nein«, entfuhr es Dana.
»Marks Projekt.«
Dana schloss die Kiste. Sie wollte nichts mehr sehen. Sie hatte keine Ahnung, was das alles bedeutete, aber sie wusste instinktiv, dass ihr Fund kein Weihnachtsgeschenk war wie im LKW von Sams Vater. Draußen vor der Garage, auf der anderen Straßenseite, hörte sie den Kies knirschen, als Marnies Wagen in die Auffahrt einbog.
»Sie sind wieder da«, sagte Sam.
»Quinn …« Dana schloss die Augen.
»Du musst stark sein, für sie und Allie.« Sams Arm umfasste ihre Schulter. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen; sie war froh, seine Unterstützung zu spüren. »Das ist es, was sie jetzt brauchen.«
»Du weißt es, aus eigener leidvoller Erfahrung, nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja.«
Dana war elend zumute. Das Gefühl wurde schlimmer, als sie den Schuppen öffneten und die Straße überquerten. Quinn und Allie tollten herum, aßen Vanilleeis im Hörnchen. Sie erzählten voller Begeisterung, wie Quinn im Minigolf gesiegt und Allie ihrer Schwester die Daumen gedrückt hatte.
Dana nickte lachend. Sie gab sich den Anschein, aufmerksam zuzuhören, ganz Ohr zu sein. Die Eichenblätter über ihren Köpfen raschelten im Sommerwind. Sterne funkelten am dunkelblauen Firmament. Die Mädchen lachten und schrien durcheinander. Dana bedankte sich bei Marnie. Niemand wusste, was wirklich in ihrem Kopf vorging, niemand außer Sam.
Er berührte ihre Schulter, und als sie die Hand hinter ihren Rücken streckte, ergriff er sie. Niemand sah es. Selbst Quinn, von den Freuden des lauen Juliabends abgelenkt, vergaß, wachsam zu sein. Dana und Sam waren die Einzigen, die am Fuß der Jamestown Bridge oder vier Faden über der
Sundance
warteten, in dem Wissen, dass es mehr Antworten gab, nach denen sie suchen mussten, und mehr Fragen, als irgendjemand bisher gestellt hatte.
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15
I n dieser Nacht konnte Dana nicht schlafen. Die Angelkiste, mit Geldscheinen gefüllt, ragte unheilvoll in der Dunkelheit auf. Sie wälzte sich ruhelos im Bett hin und her, erwachte immer wieder, von Albträumen geplagt. Vor ihrem Fenster funkelten die Sterne am Himmel. Sie betrachtete die Konstellationen: Jedes Sternbild erzählte seine eigene Geschichte, die sich auf ihr Leben bezog. Die Zwei Schwestern tanzten am Himmel. Die Verratene Geliebte verbarg sich in ihrer Höhle. Die Nacht war voller Geheimnisse.
Sie dachte an Sam – oder träumte von ihm. Er ging ihr nicht mehr aus dem Sinn und er versuchte, sie auf die Erde zurückzuholen. Aus ihrer Höhle heraus, herab aus luftiger Höhe, weg von ihrem Tanz. Dana hatte sich zeitlebens zu Urformen hingezogen gefühlt. Sie hatte wie ein Sternbild gelebt, hatte rastlos die Himmelsareale durchstreift, eine Ansammlung von Sternen in wechselnder Konstellation, ohne richtiges Zuhause. Maler, Bildhauer, Nomaden, Suchende.
Sam war … Sam. Mit sich und der Welt im Reinen, wie es schien. Er fühlte sich offenbar wohl in seiner Haut,
bien dans sa peau
, wie die Franzosen sagten. Und während sie wach im Bett lag und das graue Licht des heraufdämmernden Morgens durch die Fenster drang, stellte sie sich seinen Körper, seine Haut vor.
Seine gebräunte Haut, der ein Glühen anhaftete von den Tagen, die er auf seinem Boot in der Sonne verbrachte. Er strahlte Harmonie und innere Zufriedenheit aus. Das Lächeln in seinen goldgrünen Augen verriet, dass er gelernt hatte, zufrieden zu
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