Schilf im Sommerwind
abermals versuchte, den Schlüssel in das Schloss einzuführen.
»Weißt du, was Joe sagen würde?«
»Nein, was?«
»Dass man nichts im Leben geschenkt bekommt. Versuch es weiter.«
Plötzlich hörte sie auf, sich abzuplagen, und starrte den Schlüssel an. »Er passt nicht.«
»Bist du sicher?« Sam versuchte es selbst. Sie hatte Recht. Der Schlüssel passte beim besten Willen nicht in das Schloss. Aber es war ein so gutes Gefühl, ihr nahe zu sein, die Berührung ihrer bloßen Arme zu spüren und ihre gebräunten Beine zu betrachten, während sie im Schneidersitz auf dem Boden saß, dass er weitermachte.
»Verdammt«, sagte Dana. »Er muss zu irgendeinem anderen Schloss gehören. Aber was ist in der Angelkiste?«
»Also gehörte sie doch Mark, was meinst du?«
»Wahrscheinlich. Lily hat nicht geangelt, aber Mark war auch nicht der Typ, der etwas wegsperrte. Es sei denn, er hatte Geheimnisse, von denen niemand etwas wusste. Es ist verrückt – aber seit Quinns Mutmaßungen wittere ich überall Böses wie in einer Shakespeare-Tragödie. Ränke hinter vorgehaltener Hand, Bedrohungen – Missetaten in dem verdammten Sun Center. Lass uns das Schloss aufbrechen.«
»Jetzt gleich?« Sam hielt die Angelkiste in beiden Händen.
»Was würde Joe wohl tun?« Es gefiel Sam, dass sie eine Verbindung zu dem Menschen herstellte, der für ihn das Maß aller Dinge war.
»Das, was nötig ist.« Er drückte sie an sich, und sie erwiderte den Druck. Dann machte er sich ans Werk. Er schüttelte die Kiste und lauschte, als der Inhalt umherwirbelte: Dem Geräusch nach zu urteilen, handelte es sich dabei eher um Papiere als um Metallköder und Senkblei. Als er sich umsah, nach einem Platz, an dem er die Spange des Schlosses aufbrechen könnte, spürte er Danas Hand auf seiner Wange.
»Du bist ein prima Freund«, sagte sie, während ihr Herz schneller klopfte. »Und ein ebenso guter Schatzsucher wie dein Bruder.«
»Er wäre überrascht, dieses Lob aus deinem Mund zu hören.« Sam grinste, während er registrierte, dass sie ihre Hand nicht wegzog. Sie war weich, und er wünschte, er hätte sich heute Morgen rasiert. Ihre Blicke versanken ineinander. Die Gegenwart ihrer Geschwister war zu spüren, doch als Sam ihr in die Augen sah, hatte er das Gefühl, alleine mit ihr zu sein. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest.
Erstaunlich war, dass sie es zuließ. Sie hockten auf dem kühlen, feuchten Boden des Schuppens, der zum Anwesen ihrer Familie gehörte, und waren drauf und dran, eine verschlossene Angelkiste aufzubrechen, an einem herrlichen Sommertag, der von der Spannung unberührt blieb.
»Du musst nicht«, sagte sie. »Schließlich gehörte sie meiner Schwester. Ich mache das.«
»Ich würde alles für dich tun, Dana.«
Sie hielt seine Hand, leicht und ohne Druck, dann drehte sie sie um. Schweigend musterte sie die Innenfläche wie eine Wahrsagerin. Sie trommelte mit den Fingerspitzen gegen seinen Handrücken, behielt ihren lockeren Griff bei. Vielleicht dachte sie daran, was sie in diesem Sommer gemeinsam erlebt hatten: ihre Ausstellung, die Fahrt zum JFK -Flughafen, das Streichen des Bootes, die Segelpartie, der Schlüsselfund. Sam konnte zumindest nicht umhin, daran zu denken.
»Weißt du was, Sam?«, sagte sie schließlich, den Blick auf seine Handfläche gerichtet.
»Du wirst mir gleich sagen, dass ich ein langes Leben vor mir habe.«
»Ich möchte sagen, dass ich dir sehr dankbar bin.« Sie hob die Augen, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Miene war feierlich und dankbar, und sein Wunsch, sie lächeln zu sehen, war beinahe genauso groß wie der Wunsch, der Augenblick möge ewig währen. Aber sie ließ seine Hand los und deutete auf die Angelkiste. »Und jetzt mach sie auf«, fügte sie hinzu.
Sam schickte sich an, der Bitte Folge zu leisten. Er konnte es selber kaum glauben. Obwohl es ihm nicht im Mindesten ähnlich sah, im Eigentum anderer herumzuschnüffeln – in dieser Hinsicht hatte sie Recht, solche Aktivitäten lagen mehr auf Joes Linie –, waren seine Worte ernst gemeint: Für sie würde er alles tun. Und deshalb erhob er sich.
Er fand ein rostiges altes Stemmeisen auf einem Regal, stellte die Kiste auf den Fußboden und bereitete sich vor, sie aufzubrechen.
»O Lily, lass es nichts Schlimmes sein«, schickte Dana ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, als Sam das Stemmeisen ansetzte.
In dem Moment ertönten Gelächter und die Stimmen der Mädchen. Leute kamen die Straße entlang. Dana blieb gerade
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