Schilf
Er spürt den Puls im Inneren des Vogeleis, und er spürt, wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik dabei ist, ihn und seinen Fall in einem Zustand anwachsender Unordnung zu zerstreuen. Bald wird ihm endgültig die Kraft fehlen, um der Auflösung etwas entgegenzusetzen. Es gilt, eine finale Anstrengung zu unternehmen. Noch ein halber Tag, noch eine Nacht. Der letzte Versuch, etwas in Ordnung zu bringen. Die beiden Engel halten einander an den Händen. Auf ihren Scheiteln flackert der Widerschein von Bildern, die den Zusammenstoß von beschleunigten Elementarteilchen zeigen.
»Die Beobachtung«, sagt die Männerstimme aus den Lautsprechern, »wählt von allen möglichen Vorgängen den aus, der tatsächlich stattgefunden hat.«
»Ich bin hier«, sagt Schilf.
Maikes Rücken versteift sich, während sie langsam den Kopf wendet.
»Ich weiß«, sagt sie.
Eine grelle Explosion auf der Leinwand taucht den Saal in weißes Licht. Maikes Gesicht ist in allen Einzelheiten zu erkennen, kühl und undurchdringlich wie eine überbelichtete Photographie. Auch Liam dreht sich um. Seine Augen wirken hart wie blaue Plastikstücke. Als er den Kommissar erkennt, wendet er ihm demonstrativ den schmalen Rücken zu.
»Ich finde es unerträglich, dass Sie uns beschatten«, flüstert Maike.
»Aber ich beschatte Sie doch nicht!«, ruft der Kommissar unterdrückt.
»Kein elementares Phänomen ist ein reales Phänomen«, sagt die Männerstimme, »bis es ein beobachtetes Phänomen geworden ist.«
Eine Zeichentrickkatze geht in der Kuppel spazieren. Die Kinder jubeln, ein Wald von Armen wächst aus dem Menschengebüsch.
»Ich wollte fragen, wie es Ihnen geht«, flüstert Schilf.
Maike lacht lautlos.
»Verschwinden Sie. Bei uns gibt es absolut nichts mehr zu holen.«
Die Katze wird in eine Schachtel gesperrt. Schilf weiß, was jetzt kommt. Auch über Schrödingers Katze hat er etwas im Internet gelesen. Solange niemand in die Schachtel gucken kann, ist die Katze zugleich tot und lebendig. Man nennt das einen Überlagerungszustand. Aus Maikes Sicht bilden Rita und er eine solche Überlagerung. Maike kann zwischen dem Kommissar und der Kommissarin nicht unterscheiden. Polizeiarbeit ist Polizeiarbeit. Es würde nichts nützen, ihr zu erklären, dass er nichts dafür kann, wie Sebastian behandelt wird. Dass er ihm, im Gegenteil, das Elend einer Untersuchungshaft erspart hat. Maike würde den Kommissar erst recht für einen Lügner halten.
Das Ticken einer hektischen Uhr zerrt an Schilfs Nerven. Erleichtert stellt er fest, dass es diesmal den Lautsprechern entstammt und nicht dem eigenen Kopf.
»Das mit der Hausdurchsuchung tut mir entsetzlich leid«, sagt er schließlich. »Ich muss mich für meine Kollegin entschuldigen.«
»Was für eine Hausdurchsuchung?«, fragt Maike.
»Sie wissen nichts davon?«
»Ich bin seit gestern nicht in der Wohnung gewesen.«
»Dann«, sagt Schilf, während ihn das Entsetzen kalt umarmt, »dann haben Sie ihn verlassen?«
»Er hat uns verlassen, im Kopf und im Herzen. Wir sind bloß aus der Wohnung ausgezogen. Vergleichsweise eine Formalität.«
»Nein«, sagt Schilf. »Sie irren sich. Sebastian würde niemals …«
»Herr Kommissar«, flüstert Maike und neigt ihm den Kopf zu, damit Liam sie nicht hören kann, »hat mein Mann Ralph Dabbeling umgebracht?«
»Ja.«
»Danke«, erwidert Maike und dreht sich weg. »Es tut gut, eine klare Antwort zu bekommen.«
»Er hat das nicht gewollt.«
»Man tut nichts, ohne es zu wollen.«
»Er wurde erpresst.«
»Sie glauben ihm?«
»Seltsam, nicht wahr? Dabei sind Sie mit ihm verheiratet. Nicht ich.«
»Was ich glaube, spielt keine Rolle mehr.«
»Sie irren schon wieder.«
Der Kommissar bewegt sich ein Stück, um Maike von der Seite ins Gesicht sehen zu können. Sie lächelt nicht. Sie zeigt auch keine Verzweiflung, keine Wut, keinen Schmerz. Eine Statue, denkt Schilf. Innen kalt, außen pure Form.
»Stellen Sie sich drei Menschen vor«, sagt Maike, »die gemeinsam auf einer bequemen Straße gehen. Plötzlich endet der Weg. Da schlägt sich einer der drei ohne Zögern in die Büsche und rennt davon. Allein.«
»Das Bild ist völlig falsch.«
»Können Sie mal aufhören mit dem Gequatsche?«, fragt eine Frau, die neben Maike steht.
»Gleich fertig«, sagt Schilf und hebt seine Dienstmarke ins Licht.
»Die Quantenphysik«, sagt der Sprecher, »öffnet unser Denken für eine ganz andere Wirklichkeit.«
»Alles, was ich unternehme, dient dazu,
Weitere Kostenlose Bücher