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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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und hält den Blick starr auf ein leeres Glas gerichtet, dessen Bemalung ein Paar schnäbelnder Sittiche zeigt.
    »Grundgütiger«, sagt der Kommissar.
    Er lässt die Aktentasche fallen, streckt beide Hände aus und eilt auf Sebastian zu, als wollte er ihm etwas Schweres abnehmen. Dieser dreht nur die Augen und schafft es nicht ganz, den Kommissar anzusehen.
    »Liam hat es seiner Mutter dieses Jahr zum Geburtstag geschenkt.« Sebastian deutet mit einer winzigen Fingerbewegung auf das Glas. »Wir hatten es zufällig in einem Kaufhaus entdeckt. Maike hat sich sehr darüber gefreut.«
    »Wie schön«, sagt der Kommissar.
    »Ich hatte es mir einfacher vorgestellt. Bei Dabbeling ging es ganz leicht. Drahtseil ist Drahtseil, dachte ich mir.«
    »Das ist nicht mal eine schlechte Lösung«, erwidert Schilf. »Das ist gar keine.«
    »Oskar sagte einmal, das Leben sei ein Angebot, das man auch ablehnen kann. Aber dann war ich nicht in der Lage, mich zu entscheiden. So wie mein ganzes verdammtes Leben lang.« Sebastians Lachen geht in einen Hustenanfall über. »Was führt Sie hierher?«
    »Ich habe eine Botschaft für Sie.«
    Endlich hebt Sebastian den Kopf.
    »Von Maike?«
    »Nein.« Schilf räuspert sich. »Sie werden gleich wissen, von wem.«
    Die Sirene eines Krankenwagens nähert sich, schwillt an, warnt in den höchsten Tönen und senkt im Vorbeifahren die Frequenz.
    »Der Dopplereffekt«, sagt Sebastian. »Ein schönes Beispiel für die Relativität der Dinge.«
    Gemeinsam lauschen sie dem verebbenden Klang. Schilf fühlt sich wie ein Chirurg, der seinem Patienten noch ein paar Sekunden Ruhe gönnt, bevor er ohne Betäubung ein Geschwür entfernen wird. Dieses Geschwür ist ein Irrtum. Es ist der letzte, größte, schmerzlichste Irrtum, den Schilf herausschneiden und durch ein stählernes Instrument ersetzen will, das man Wahrheit nennt und das von nun an als steriler Fremdkörper im Organismus des Patienten arbeiten soll. Sehnsüchtig wünscht sich der Kommissar den Beistand eines Anästhesisten.
    »Das wird jetzt kurz weh tun«, sagt er. »Geben Sie acht.«
    Sebastian schaut ihn an und wartet.
    » Doublethink muss weg«, sagt der Kommissar.
    »Was soll das?«
    Sebastian will aufspringen und sinkt zurück auf den Stuhl, als ihm der Kommissar zwei schwere Hände auf die Schultern legt.
    »Genau hinhören«, sagt Schilf. » Doublethink muss weg.«
    Erst geschieht gar nichts. Es vergeht fast eine Minute, bis Sebastian erneut auffährt und anfängt, nach Schilf zu schlagen wie ein Ertrinkender nach seinem Retter. Mit ganzem Gewicht stemmt sich der Kommissar, tief über den Sitzenden gebeugt, dem Anfall entgegen.
    »Nicht das!«, brüllt Sebastian.
    » Doublethink muss weg«, wiederholt der Kommissar.
    »Lassen Sie mir Oskar! Lassen Sie der Katastrophe wenigstens ihren Sinn!«
    Der Aufruhr endet so plötzlich, wie er begonnen hat. Sebastian ist über die Tischplatte gesunken und liegt da wie tot. Ein Selbstmord wäre in seiner Situation logisch gewesen. Ein Mann hat alles verloren, strafft den Rücken, nimmt seinen Hut und geht. Logik bedeutet Würde. Nun aber gibt es einen neuen Drei-Wörter-Satz, und der ist bei weitem schlimmer als der erste. »Dabbeling muss weg« war der tragische Befehl, das eigene Leben zu zerstören. » Doublethink muss weg« ist eine Posse. Ein grotesker Zufall, der alles, was aus ihm folgt, mit Lächerlichkeit vergiftet.
    Der Kommissar kann verstehen, dass Sebastian sich nicht mehr rührt. Fast fürchtet er, das Gesicht des anderen, sollte er sich aufrichten, in eine alberne Karikatur verwandelt zu sehen. Schilfs Hände liegen noch immer auf dem fremden Rücken. Zur Vervollständigung der Stille fehlt nur noch das Ticken einer Küchenuhr. Gerade hat der Kommissar beschlossen, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als im Durcheinander der Küche für sie beide Kaffee zu kochen, da beginnt Sebastian leise zu lachen.
    »Vera Wagenfort«, sagt er. »Die Stimme kam mir gleich bekannt vor. Das ist die Brünette. Aus dem Vorzimmer eines der größten Elementarphysiker der Welt.« Er lacht wieder. »Wahrscheinlich hat er sogar erwartet, dass ich sie erkenne. Dass ich fröhlich bei ihm anrufe und ihn einen Schuft nenne. Stattdessen bringe ich einen Mann um. Ist es nicht so, dass wir immer das verstehen, was wir verstehen wollen?«
    »Das lässt sich nicht ganz abstreiten«, sagt der Kommissar vorsichtig.
    »Und ich dachte, ich wäre am Ende.« Sebastian dreht den Kopf, so dass Schilf sein Gesicht sehen

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