Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Sebastians Unschuld zu beweisen«, sagt der Kommissar zu Maike. »Und zwar Ihnen.«
    »Warum?«
    »Ich will, dass Sie bei ihm bleiben.«
    »Warum?«
    Weil du zu der Postkarte gehörst, die ich auf die Kühlschranktür meiner Erinnerung kleben will, denkt Schilf.
    Mit beiden Händen reibt er sich das Gesicht. Er zieht das Gespräch in die Länge, weil er es genießt, mit dieser Frau zu reden. Er muss sich zusammennehmen und sofort aufhören, ihren rührend flaumigen Haaransatz und die fast weißen Wimpern zu betrachten. Es gilt, die Sekunden zu nutzen, in denen sie noch zuhört, die Arme verschränkt, das glatte Gesicht der Kuppel zugekehrt.
    »Hören Sie«, flüstert Schilf. »Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden. Ich könnte Ihnen alles erklären. Aber ich will, dass der wahre Schuldige es selbst tut.«
    »Das ist nicht mein Krieg. Ich wurde aussortiert, bevor er begonnen hat.«
    »Aber Liam will die Wahrheit wissen. Ich habe ihm die Wahrheit versprochen!«
    Da wirft Maike dem Kommissar einen schnellen Blick zu, beugt sich zu ihrem Sohn hinunter und legt ihm eine Hand in den Nacken.
    »Liam«, sagt sie leise. »Willst du von diesem Mann noch etwas wissen?«
    Über die Schulter sieht Liam dem Kommissar ins Gesicht.
    »Hau ab«, sagt er.
    Schilf krümmt sich, als hätte er einen Stoß in die Magengrube erhalten. Er schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und presst die Aktentasche an den Körper.
    »Unsere Realität«, sagt die Stimme aus den Lautsprechern, »ist wie das Lächeln einer Katze, die es gar nicht gibt.«
    Während sich der Kommissar durch die herumstehenden Menschen schlängelt, betastet er Nase, Mund und Ohren, als übte er, sich selbst im Dunkeln mithilfe des Tastsinns wiederzuerkennen.
    »Pardon«, flüstert er. »Ich bin gleich weg.«
    Und immer wieder, als müsste er es jedem der unwillig zischenden Zuschauer einzeln mitteilen: »Gleich bin ich weg.«

4
    D ie Aktentasche stört beim Rennen. Schilf klemmt sie unter den Arm, während er am Bahnhof vorbeiläuft und weiter die Stephan-Mayer-Straße entlang. Von seiner Anstrengung scheint sich die ganze Stadt aufzuheizen. Passanten werden zu mehrfarbigen Strichen, Häuser ziehen die Bäuche ein und neigen sich vor, um dem Vorbeihastenden nachzusehen. Eine Weile rennt ein kleiner Junge nebenher, schreit »Hopp, hopp!« und klatscht in die Hände. Erst in der Sophie-de-la-Roche-Straße verlangsamt Schilf seine Schritte. Das Herz schlägt ihm hart gegen die Rippen. Unter den Füßen atmet der Boden, der Bürgersteig führt steil in den Himmel. Fast erwartet der Kommissar, im nächsten Augenblick als eine trübe Flüssigkeit aus seinen Kleidern zu fließen.
    Bonnie und Clyde lassen sich von der Mauer ins Wasser fallen und gleiten, eine Wellenschleppe hinter sich herziehend, auf ihn zu.
    »Schnell, schnell, schnell«, schnattern sie.
    Schilf kann nicht sprechen und dankt mit zwei erhobenen Fingern, bevor er das Haus betritt.
    Im Treppenhaus äffen die Wände sein flaches Keuchen nach. Stufe um Stufe zieht sich Schilf am Geländer hinauf. Er hat noch nicht darüber nachgedacht, wie er im Ernstfall die Wohnungstür aufkriegen soll. Als er den zweiten Stock erreicht, steht sie offen. Schilf prüft das Schloss; es ist unbeschädigt. Entweder haben die Kollegen sauber gearbeitet, oder sie wurden freiwillig eingelassen. Jedenfalls ist die offene Tür kein technisches Problem, sondern eine Einladung.
    Obwohl sein erster Besuch nicht mehr als zwei Tage zurückliegt, hat der Kommissar schon auf der Schwelle Mühe, die Wohnung wiederzuerkennen. Überall liegt Papier herum. Die Teppiche sind aufgerollt, die Bilder abgehängt. Alles verbreitet eine Atmosphäre von Vertreibung und Heimatlosigkeit. Schilf muss nicht lang überlegen, wo Sebastian zu finden ist. Gewisse Dinge geschehen immer in der Küche, die der Bauch einer Wohnung ist, so wie der Flur ihre Beine, das Wohnzimmer ihr Herz und das Arbeitszimmer ihre Hirnwindungen darstellen.
    Nichts bewegt sich im Raum. Die Drahtschlinge an der Decke wirft einen scharfen Schatten. Die Küchenlampe wurde abgenommen und presst ihren Schirm wie einen Saugnapf auf den Tisch. Ein umgestürzter Stuhl stemmt die Beine gegen die Tür des Backofens. Der Inhalt ausgeleerter Schubladen liegt über den Boden verteilt. Besteckteile zwischen Kerzen, Schnüren, Tesafilm, Putzlappen. Auf der Fensterbank stapeln sich Töpfe und Pfannen. Sebastians Körper fügt sich nahtlos ins Bild. Reglos sitzt er am Tisch, gekrümmt wie ein Fragezeichen,

Weitere Kostenlose Bücher