Schilf
Kollegen lautstark zu kommentieren. Wenn jemand widerspricht, verweist sie auf eine lange Reihe von Fällen, in denen sie schon beim ersten Angriff richtig lag.
Die Katze ist eines der wenigen Wesen, denen Rita Gutes wünscht. Wenn sie das kleine Tier auf dem Schoß hält, ist dessen Körpertemperatur nach wenigen Sekunden auf der Haut zu spüren, ganz anders als die Wärme eines Menschen, die Minuten braucht, um Kleider zu durchdringen. Außerdem hat die Katze, im Gegensatz zu den meisten Leuten, eine sinnvolle Aufgabe. Sie hält die Vögel von den Fenstern der Erdgeschosswohnung fern. Weil Rita dazu neigt, sich beobachtet zu fühlen, kann sie fliegende Spione nicht leiden.
Nachdem sie ihr drittes Hühnerei vertilgt hat, steht Rita auf und setzt die schnurrende Katze auf den frei gewordenen Stuhl. In der Küche füllt sie den Futternapf mit Geflügelhack, das sie gekauft hat, um sich bei der Katze zu entschuldigen. Seit ein Oberarzt und sein Kopf ihren Radausflug auf getrennten Wegen zu Ende gebracht haben, ist Rita kaum noch zu Hause. Letzte Nacht hat sie ihre Dienststelle nach einem Anruf des schnauzbärtigen Polizeipräsidenten beleidigt verlassen und ist am Morgen nach ein paar Stunden Schlaf genauso beleidigt aufgewacht. Auch wenn sie wenig Erfahrung mit politisch brisanten Fällen hat, überrascht es sie nicht, dass der Polizeipräsident ins Telefon brüllt und ausdrücklich das Herbeizaubern eines Wunders von ihr verlangt. Es macht ihr auch nichts aus, bis spät in der Nacht im Büro zu bleiben und früh um sieben wieder zur Arbeit zu gehen. Was ihr jedoch beim Gedanken an das Telefonat vom Vorabend die Magensäure hochsteigen lässt, ist die Tatsache, dass man ihr einen ranghöheren Kommissar vor die Nase setzen will. Rita Skura ist jung, sie ist eine Frau, und die »MK Drahtseil« ist faktisch ihre erste eigene Mordkommission. Selbst wenn sich die ganze Angelegenheit zu einer echten Krise ausweiten sollte, selbst wenn der Stuhl des bürstenhaarigen Innenministers wackelt – Rita Skura braucht keine Verstärkung. Bis zum Abend soll sie konkrete Ergebnisse vorweisen, sonst wird ausgerechnet jener Kriminalhauptkommissar Schilf aus Stuttgart nach Freiburg beordert, dessen Hinweisen sie ihre Karriere verdankt.
Seiner Gastdozentur an der Polizeihochschule hatte man mit Neugier entgegengesehen. Der Ruf eines kriminalistischen Propheten eilte ihm voraus. Es hieß, er verabscheue Teamarbeit, lasse sich selten im Präsidium blicken und löse seine Fälle gewissermaßen im Schlaf. Man erwartete einen Zauberkünstler. Als Schilf endlich vor der Klasse stand, ging die Enttäuschung wie ein kalter Luftzug durch die Reihen. Mit Anfang fünfzig gebärdete sich dieser Mann wie ein Greis. Unter dem abgetragenen Jackett ließ er die Schultern hängen, als wollte er etwas gegen seine Körpergröße tun. Einst blondes Haar hing ihm in farblosen Strähnen ins Gesicht. Gebeugt stand er an der Tafel und zerbrach Kreidestücke zwischen den Fingern. Immer wieder hielt er ohne ersichtlichen Grund in seinem Vortrag inne, trat schwankend von einem Fuß auf den anderen und horchte mit erschrockener Miene in sich hinein, als vernähme er dort das Echo eines lang zurückliegenden Donnerschlags. Wenn er dann weitersprach, sagte er Sätze, die niemand verstand. »Ich habe kein Gedächtnis, deshalb kann ich in die Zukunft sehen.« Oder: »Von zwei widersprüchlichen Aussagen sind meistens beide zugleich richtig und falsch.«
Oder am liebsten: »Zufall ist der Name des größten menschlichen Irrtums.«
Keiner der Studenten hielt sein seltsames Benehmen für Tarnung (damit hatten sie recht). Sie glaubten vielmehr, vor den jämmerlichen Überresten eines ehemals erfolgreichen Mannes zu sitzen (hier lagen sie falsch).
Anfänglich bezeichnete Rita ihn im Stillen als genialen Verdammten. Nachdem er sie in der ersten Mittagspause mit einem Schlag vom Dummerchen zur Skeptizistin gemacht hatte, nannte sie ihn ein verdammtes Genie. Als er sich nach der letzten Seminarstunde von ihr verabschiedete, fasste er ohne Umstände nach ihren Händen, betrachtete sie eingehend und sagte: Rita-Kind, was haben Sie für gewaltige Außenminister! – Sie befreite ihre Finger, deutete auf sein Gesicht und erwiderte: Und Sie, was tragen Sie für ein knittriges Visier! – Sie sahen sich in die Augen und lachten. Seitdem hat Rita ihn nicht wiedergesehen.
Natürlich hat sie den halb verrückten Schilf gemocht. Und gerade deshalb, ganz so, wie sie es von ihm
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