Schilf
Sie’s mir schonend bei«, sagt Rita und hebt sich die schweren Locken aus der Stirn.
Wie viele andere Dinge, kann Rita auch den Sommer nicht leiden. Wenn es nach ihr ginge, könnte es das ganze Jahr Herbst oder Winter sein. Bei Kälte ist das Nachdenken leichter und der Kleidungsstil seriöser.
»Drei weitere Oberärzte mit abgehackten Köpfen?«
Schnurpfeil vermeidet den Blick auf ihre unrasierten Achselhöhlen.
»Kindesentführung«, sagt er knapp.
Ritas Blick trifft den Polizeiobermeister mit solchem Hass, als wäre er Täter, Opfer und Zeuge in einer Person.
»Sagen Sie das noch mal, wenn Sie sich trauen.«
»Kindesentführung«, wiederholt Schnurpfeil.
Rita lässt ihr Haar los und wirft sich im Sessel zurück, dessen Lehne sich federnd nach hinten neigt.
»Ein Typ mit gelber Frisur und blutigem Hemd?«
»Woher wissen Sie das?«
Mit wegwerfender Geste übergeht sie seinen ehrfürchtigen Tonfall. Sie hätte es sich gleich denken können. Nachdem sie den Typ an der Anmeldung für einen Penner gehalten hat, muss er mindestens Professor sein.
»Der Vater?«
»Sein Junge ist seit vier Tagen weg.«
»Und da kommt er erst jetzt?«
»Die Entführer haben ihn hingehalten. Er hat nicht gewagt, zur Polizei zu gehen.«
»Geld?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Er weiß es nicht.«
»Wie bitte?«
Rita springt auf und geht einige drohende Schritte auf Schnurpfeil zu. Ganz offensichtlich überlegt dieser, ob er zurückweichen soll, und entscheidet sich dagegen.
»Bislang«, sagt er, »hat man gar nichts von dem Mann verlangt.«
»Aber die Kontaktaufnahme ist erfolgt?«
»Am Tag der Entführung. Man sagte ihm, dass er warten soll.«
»Was für eine beschissene Geschichte.«
Rita wendet sich ab und knallt das Fenster zu, dass die Scheibe im Rahmen klirrt. Ein paarmal fährt sie mit ihren großen Händen durch die Luft, als müsste sie Nebelschwaden beiseitewischen, um den Polizeiobermeister ansehen zu können.
»Klingt nicht nach Kinderficker«, sagt sie. »Wahrscheinlich was Familiäres. Ist die Aussage protokolliert?«
»Alles fertig. Er sitzt unten.«
Plötzlich lässt Rita die Hände sinken:
»Der ist doch nicht etwa Arzt?«
»Physikprofessor an der Universität.«
»Lieber Gott«, ruft Rita, »ich danke dir!«
Schnurpfeil grinst, als hätte sie ihn gemeint. Rita lehnt sich gegen die Schreibtischkante, die ihren Hintern ein wenig in die Breite drückt, und hebt einen Zeigefinger, wie sie es immer tut, wenn sie sich überfordert fühlt.
»Kindesentführung«, sagt sie belehrend, »mag die Presse nicht.«
»Wir werden das trennen«, sagt Schnurpfeil. »Die Presse braucht von der Entführung erst mal nichts zu erfahren.«
Rita nickt; ihre Schultern entspannen sich. Wie so oft ist dem Polizeiobermeister etwas eingefallen, das sie beruhigt.
»Hören Sie, Schnurpfeil. Ich kann mich beim besten Willen nicht persönlich darum kümmern.«
»Das versteht sich von selbst. Der Chef schlägt vor, dass Sandström die Sache übernimmt.«
»Sandström ist ein Vollidiot«, sagt Rita. »Richten Sie ihm das aus.«
Schnurpfeil zückt einen Notizblock.
»Er soll mit dem Professor nach Hause fahren. Die Jungs von der Technik benachrichtigen und die Psychotante mitnehmen. Telefone verkabeln, das volle Programm. Und befragen, solange er durchhält. Familienprobleme, Freundeskreis, Beruf. Wenn ich es schaffe, komme ich am Abend vorbei.«
Schnurpfeil steckt den Notizblock weg.
»Ich laufe schnell runter«, sagt er, »und gebe Bescheid. Anschließend fahre ich Sie ins Krankenhaus.«
»Schön.«
Rita Skura schaut an Schnurpfeil vorbei auf die Pinnwand, an der neben Aufnahmen vom Tatort ein Photo von ihrer Katze hängt.
»Vier Tage«, sagt sie. »Der Professor kann einem leidtun.«
3
S ie haben ihm das Auto weggenommen. Sie haben ihm das Handy weggenommen. Sie haben ihm Hemd und Hose weggenommen und in Plastiksäcke verpackt. Er steckt in einem Anzug aus Papier, der bei jedem Schritt raschelt und in dem er sich vorkommt wie eine Mischung aus Leiche und Clown. Im Augenblick hätte er nichts dagegen, in eine Aluminiumschublade gelegt und mit einem Kärtchen am Zeh in die Wand geschoben zu werden. Endlich Kühle, endlich Stille. Endlich schlafen.
Sie haben ihm den Schlüssel zu seiner Wohnung weggenommen, und jetzt nehmen sie ihm die Wohnung weg. Auf der Straße stehen drei Beamte in Zivil und observieren das Haus, um herauszufinden, ob das Haus observiert wird. Im Flur liegt ein Mann auf dem Bauch, hat
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