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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Antwort.«
    »Ich habe ihn nicht gemocht.«
    »Hatte er Verwandtschaft?«
    »Jeder hat Verwandtschaft.«
    »Frau und Kind?«
    »Nein.«
    »Besaß er Stil?«
    »Das geht zu weit!«
    Es rauscht im Hörer, als Sebastian das Hemd aus der Hose zieht, um sich mit den Schößen die Stirn zu trocknen.
    » Mon dieu «, sagt Oskar. »Du redest wie ein beliebiger Heuchler.«
    Oskar ist aufgestanden und hat das Dachfenster geöffnet. Er stützt die Ellenbogen auf und streckt den Rücken, als wollte er zu einem großen Publikum sprechen. Anders als Sebastian vermutet hat, ist seine Ruhe in diesen Minuten nicht allein seinem Fatalismus geschuldet. Seit er von Dabbelings Tod in der Zeitung las, hatte er Zeit, sich jeden Satz des vorangegangenen Dialogs im Voraus zu überlegen. Der schwierigere Teil steht noch bevor. Ab jetzt soll jedes Wort sitzen. Ab jetzt ist jedes Wort eine Faser des Seils, mit dem Oskar seinen Freund zu sich herüberziehen will.
    Er will ihn daran erinnern, dass das gesamte Universum sein Bestehen einem Symmetriebruch verdankt. Dass auch die Existenz des menschlichen Bewusstseins nur eine Folge der ungeheuren Aufspaltung ist, zwischen deren Polen (klein und groß, warm und kalt, schwarz und weiß) sich das Denken spannt. Ohne Gegensätze keine Unterscheidbarkeit; kein Raum und keine Zeit; ohne Gegensätze wären »nichts« und »alles« identisch. Wie soll man, wenn Unterscheidung die erste Bedingung der materiellen Welt ist, an die moralische Gültigkeit einer Unterscheidung zwischen »gut« und »böse« glauben? Wie soll man sich über die Auslöschung eines Dabbelings empören, von dem nicht einmal bekannt ist, ob er Stil besaß? Besonderen Wert hat Oskar auf die Einleitung gelegt: Moral ist die Pflicht der Dummen. Kluge Menschen beherrschen die Kür.
    Er hat gerade Luft geholt, als Sebastian ihm zuvorkommt.
    »Das ist nicht alles, Oskar. Liam wurde entführt.«
    In der Lichtglocke über Genf krallen sich vereinzelte Sterne fest. Diese Stadt, denkt Oskar, ist ein monströser, oben zugebundener Sack voller Angst, Trauer, Ekel und einem kleinen bisschen Glück.
    »Liam ist doch im Pfadfinderlager«, sagt er langsam.
    »Jetzt hör mir zu«, sagt Sebastian. »Dabbelings Tod ist Liams Lösegeld. Verstehst du das?«
    Weil das Sofa direkt unter dem Dachfenster steht, muss Oskar sich nur umdrehen, um sich wieder hinzusetzen.
    »Dann …« Es ist für gewöhnlich nicht Oskars Art, sich selbst im Satz zu unterbrechen. »Dann ist Liam wieder da?«
    Sebastian bedeckt das Gesicht mit den Fingern. Diese einfache Frage wäre Anlass genug, das Gespräch zu beenden und sich wieder im Wohnzimmer auf die Couch zu setzen. Stattdessen fängt er an zu reden.
    Nach wenigen klaren Sätzen (Sonntagabend, Rastplatz, Reisemedikament) beginnt er, sich in Einzelheiten zu verlieren. Er erzählt von lachenden Lastwagenfahrern, von Ameisen, die tote Raupen tragen, von Schmetterlingssuchern und einer erweiterten Typologie des Wartens. Das Reden klappt gut, alles lässt sich beschreiben, alles besteht aus harmlosen Details, die in ihrer Summe ein Geschehen ergeben. Als Sebastian geendet hat, kommt es ihm vor, als hätte er eine halbe Stunde gesprochen, dabei hat Oskar in der Zwischenzeit nur eine einzige weitere Zigarette geraucht.
    Das anschließende Schweigen ist erst eine Pause, dann ein unmöglicher Zustand und schließlich eine Selbstverständlichkeit. Sebastian hat alles gesagt, was er wusste, und Oskars wohlüberlegte Ansprache gehörte zu einem anderen Fall. Die stille Telefonleitung ist wie eine offene Tür zwischen zwei leeren Räumen. In Freiburg kriecht die erste Helligkeit des heraufziehenden Morgens auf Sebastians Fingerspitzen zu. In Genf zündet Oskar eine Zigarette an der anderen an. In beiden Städten erklingen vereinzelt die Laute erwachender Vögel. Die gnädige Nacht verflüssigt sich und rinnt nach allen Seiten auseinander. Hier wie dort zeigt sich der neue Tag als ein scharfkantiger Fels, bereit, jedem Herausforderer die Haut vom Körper zu schälen.
    Als Oskar wieder spricht, ist es hell. Seine Stimme ist ein Flüstern, das die Entfernung zwischen den Telefonen nur knapp überwindet.
    »Maik weiß nichts?«
    »Bis jetzt nicht.«
    »Geh zur Polizei.«
    »Wie bitte?«
    »Ich habe nachgedacht. Geh zur Polizei.« Oskars Atem zischt über die Membranen des Mikrophons. »Sag ihnen nur, dass Liam verschwunden ist. Sobald er wieder da ist … Sebastian? Liam kommt zurück. Sag mir, dass du das gehört

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