Schilf
hast.«
»Ja.«
»Sobald er wieder da ist, kümmern wir uns um den Rest.«
An Sebastians äußerer Haltung hat sich wenig verändert, außer dass ihn das Morgenlicht noch ein wenig elender aussehen lässt. Kein Glanz liegt auf seinem Gesicht. Kein geheimnisvolles Leuchten bezeugt die Tatsache, dass er soeben den Boden des Schachts erreicht hat. Der freie Fall ist beendet. Oskars Entscheidung hat das System gesprengt, in dem es keine beweisbare Wirklichkeit gab und in dem immer die gleiche Anzahl von Gründen für und gegen jede Handlung sprach. Mit ausgestrecktem Arm versucht Sebastian, die Lehne des Stuhls zu berühren, auf dem sein Freund beim letzten gemeinsamen Essen gesessen hat. Der Arm ist zu kurz; er reicht nicht hin.
»Möchtest du, dass ich komme?«, fragt Oskar.
»Was?«
»Möchtest du, dass ich mich in den Zug setze und zu dir komme?«
»Nein.«
»Ich hätte es gern getan. Überleg dir genau, was du ihnen erzählen wirst.«
»Ist gut.«
»Sebastian, ich …«
Die Leitung ist tot. Keiner von beiden könnte mit Gewissheit sagen, wer von ihnen die Verbindung zuerst unterbrochen hat.
Viertes Kapitel in sieben Teilen. Rita Skura hat eine Katze. Der Mensch ist ein Loch im Nichts. Mit Verspätung kommt der Kommissar ins Spiel.
1
R ita Skura hat eine Katze. Wenn sie das Tier vom Boden hebt, spreizt es die Zehen an allen vier Pfoten, als wollte es sich durch das Aufspannen kleiner Fallschirme auf einen Sturz vorbereiten. Niemals würde Rita Skura ihre Katze fallen lassen, aber darauf verlässt sich die Katze nicht. Sollte sie doch einmal fallen, würde sie federnd aufkommen und sich mit verächtlicher Miene die Barthaare streichen. Genau dafür liebt Rita ihr Haustier. Es besitzt zwei Eigenschaften, auf die sie selbst bis zum Ende ihrer Tage verzichten muss: gesundes Misstrauen und natürliche Eleganz.
In ihrer Kindheit hat Rita jede Eselei geglaubt und ist als Opfer von Schulhofstreichen zu einiger Prominenz gelangt. Es war Rita, die nach oben blickte, um ein UFO zu sichten, während man ihr gegen das Schienbein trat. Rita kletterte im kurzen Rock auf die Kastanie, um einen kleinen Vogel zu retten, während unten kichernde Jungs die Farbe ihrer Unterhose diskutierten. Kein Trick war für sie zu dumm. Sie verlor alle Buntstifte in betrügerischen Wetten und verbrachte Stunden in einem Versteck, ohne dass jemand sie suchte. Beim Räuber-und-Gendarm-Spiel wollte keiner sie in seiner Gruppe haben.
Trotzdem wusste Rita schon im Alter von zehn Jahren, was sie einmal werden wollte. Als es so weit war, schlugen ihre Eltern die Hände über dem Kopf zusammen. Aber zu Ritas guten Eigenschaften gehört ein erstaunliches Maß an Sturheit. Sie bestand auf ihrer Entscheidung, behauptete, ebenso paradox wie schlau, dass der Mensch stets in den Dingen am besten sei, die er am wenigsten könne, und bewarb sich.
Im Einstellungsgespräch beantwortete sie die Hälfte der Fragen falsch; ein Ergebnis, das allein auf wahrscheinlichkeitstheoretischen Prinzipien beruhte. Mit rotem Kopf versprach sie, ihren unerschütterlichen Glauben an die Normalität und an die guten Absichten der Menschen durch besonderen Fleiß und Sorgfalt auszugleichen. Sie wurde genommen.
Die Ausbildung fiel ihr nicht leicht. In kriminologischen Seminaren musste sie immer die Rolle des tölpelhaften Zeugen spielen, der sich durch Fangfragen aufs Glatteis führen lässt. Es verging kein Tag, an dem sie nicht darüber nachdachte, ihre Kapitulation bekannt zu geben – bis sie einem Ausbilder namens Schilf begegnete, der gleich in der ersten Unterrichtsstunde ihr Wesen durchschaute und sie in der Mittagspause beiseite nahm. Er erklärte ihr, dass sie mit den besten Voraussetzungen für die kriminalistische Laufbahn ausgestattet sei, sofern sie nur eine simple Regel berücksichtige. Sie müsse lernen, ihre Treuherzigkeit als den Erwartungshorizont des Gegners zu begreifen, und immer vom Gegenteil dessen ausgehen, was sie eigentlich dachte; also immer das tun, was ihr das Gefühl am wenigsten riet.
Von da an wurde es nicht nur besser. Es wurde gut. Ritas Gutgläubigkeit lag in allen Fällen so zuverlässig falsch, dass sie es, den Ratschlag des Ausbilders Schilf befolgend, zu einer astronomischen Trefferquote brachte. Sie musste nur das Photo eines Verdächtigen betrachten und ihn für den Täter halten, schon konnte sie sicher sein, dass er unschuldig war. Wenn sie eine Zeugenaussage las und glaubhaft fand, wusste sie, dass der Betreffende log.
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