Schilf
Ritas Treuherzigkeit verwandelte sich in ein Selbstbewusstsein, das so erbarmungslos war, als müsste sie sich für sämtliche Debakel ihres bisherigen Lebens rächen. Sie brüllte Verdächtige an und übertraf nicht nur die Kommilitonen, sondern auch die Ausbilder mit ihrem kriminalistischen Gespür. Bei der Ernennung zur Kommissarin drückte ihr der schnauzbärtige Polizeipräsident die Hand, und Rita erwiderte den Händedruck, bis ihr höchster Vorgesetzter schmerzerfüllt das Gesicht verzog.
Dennoch weiß Rita, dass ihre Katze noch immer das Zeug zur besseren Ermittlerin hätte. Sie selbst wird niemals zur Polizeilegende avancieren. Vielleicht aber zum ersten weiblichen Polizeipräsidenten von Baden-Württemberg. Und das wäre ihr durchaus genug.
Was sich nicht durch eine schlichte Umkehr der Verhältnisse ausbügeln ließ, ist die Sache mit der fehlenden Eleganz. Obwohl Ritas Eltern gewöhnliche Menschen von durchschnittlichem Äußeren sind, hat ein genetischer Zufall ihre Tochter zu einem anatomischen Ausnahmezustand gemacht. Auf den ersten Blick wirkt ihr Körperbau wie die Parodie auf einen männlichen Wunschtraum. Ihre Brüste sind so groß, dass sie den Oberkörper nach vorn zu ziehen scheinen. Gehen ist Fallen; bei Rita sieht man das. Schultern und Taille sind schmal, die Beine hoch angesetzt wie bei einer Gliederpuppe. Ihre Korkenzieherlocken nennen die jungen Polizeiwachtmeister eine Mähne, auch wenn keiner von ihnen jemals einem lockigen Pferd begegnet ist. Rita könnte sofort erklären, warum man bei ihrem Anblick an ein Pferd oder vielleicht eher an ein kompaktes Pony denkt. An ihr ist von allem ein bisschen zu viel; zu viel Haare, zu viel Beine, zu viel Mund. Sie wirkt wie ein Mensch, der in seiner Jugend einmal dick gewesen ist und die dazugehörenden Bewegungen nicht vergessen kann. Sie läuft mit großen Schritten und wiegt sich dabei wie eine Boje in der Dünung. Aus den Ärmeln ihrer Strickjacke schieben sich Hände, die aussehen, als wären sie von einem Mann geliehen. Auch die Stimme würde besser zu einem derben Menschen passen; selbst harmlose Bemerkungen bringt sie im Tonfall einer Beleidigung heraus.
An all das hat sich Rita gewöhnt. Inzwischen meint sie ihre Äußerungen so, wie sie klingen. Sie zieht die Mundwinkel herunter, wenn sie lächelt. Sie atmet ein, statt aus, wenn sie »Ja« sagt, was ein missbilligendes »Hach« ergibt, das jedem Gesprächspartner die Lust am Weitersprechen verleidet. Und wenn sie wütend ist, presst sie die Lippen aufeinander, als wäre ihr ein Wort mit »B« im Hals stecken geblieben. Blödsinn, Bagatelle oder Brimborium.
Dass sich Männer wie Frauen auf der Straße nach ihr umdrehen, hält sie nicht für ein Kompliment, sondern für die Reaktion auf eine körperliche Behinderung. Zu allen Jahreszeiten schließt sie Jacken und Blusen bis zum obersten Knopf. Im Sommer trägt sie altmodisch geblümte Kleider, deren Rocksäume bis zu einer Stelle in der Mitte der Unterschenkel reichen, die noch kein Schneider als modisch definiert hat. Auf Ritas Körper erzeugt diese Kostümierung einen ähnlichen Effekt wie ein Campingplatzaufkleber auf einem Maserati. Ein kluger Mensch muss lachen, die Dummen werden wütend. Rita ist das recht. Es gibt nicht viele weibliche Kriminalbeamte, und von jenen, die es gibt, behaupten die Kollegen, sie würden schon beim Anblick einer Wasserleiche in Ohnmacht fallen. Deshalb braucht Rita eine Verpackung, welche die Überlegenheit des Verstandes über das Leibliche zur Schau stellt. Sie trägt ironische Kleider und sarkastische Sandalen, die im gesamten Gerichtsbezirk gefürchtet sind. Wenn sie einen Raum ihrer Dienststelle betritt, senken sich die Köpfe wie in einem Klassenzimmer beim Erscheinen der Lateinlehrerin. Auf die Frage, ob sie überhaupt keinen Humor besitze, würde sie antworten, dass es keinen einzigen Satz gibt, der so dämlich ist, dass ein Mensch ihn nicht im Ernst äußern könnte. Wozu also lachen?
Das Einzige, was Rita wirklich interessiert, ist die Polizeiarbeit. Sie ist einunddreißig, unverheiratet und kinderlos. Als Mitglied von Mordkommissionen ist sie täglich in Leichensachen unterwegs, kann totgeprügelte Ehefrauen, am Kartoffelbrei erstickte Senioren und vom Regionalexpress zerlegte Selbstmörder untersuchen, ohne auch nur an eine Ohnmacht zu denken, und hat selbst die Jungs von der Schutzpolizei bestens im Griff. Bei den morgendlichen Dienstbesprechungen pflegt sie Fehler und Versäumnisse der
Weitere Kostenlose Bücher