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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gelernt hat, traut sie ihm nicht. Wenn sie jetzt etwas nicht gebrauchen kann, dann ist es die Anwesenheit eines Genies, gegen das sie mit Fleiß und Sorgfalt nichts ausrichten kann und das zudem die Systematik ihres Erkenntnisverfahrens durchschaut. Ralph Dabbeling ist ihr bislang wichtigster Fall. Sein Tod, der womöglich den Schlüssel zum Medizinerskandal enthält, gehört ihr.
    Obwohl es um sieben Uhr bereits bedenklich warm ist, zieht Rita ihre Strickjacke über das Kleid, bevor sie das Haus verlässt. In ihrem lippenstiftroten Corsa fährt sie in die Heinrich-von-Stephan-Straße, hält ihren Ausweis vor den Kartenleser und parkt den Wagen unter dem bemoosten Wellblechdach. Den Hintereingang ignorierend, umrundet sie das Gebäude, um es, wie jeden Tag, mit gestrafften Schultern und gerecktem Kinn durch das Klinkerportal zu betreten.

2
    A n der Anmeldung steht ein Mann, beide Hände auf die Theke gestützt und die Stirn an die Plexiglasscheibe gelehnt, als könnte er sich aus eigener Kraft nicht mehr auf den Beinen halten. Rita kennt diese Kerle und findet sie widerlich. Dieser ist groß und stattlich, ein Typ, der es im Leben durchaus zu etwas hätte bringen können. Das Haar fettig und von einem stumpfen Straßenkötergelb. Seine Klamotten müssen einst eine Menge Geld gekostet haben; jetzt sind die Sachen blutbeschmiert und von oben bis unten zerdrückt. Offensichtlich hat der Mann mehrere Tage in seinen Kleidern verbracht. Egal, ob solche Leute freiwillig kommen oder von der Streife gebracht werden – sie verursachen einen Ärger, an dessen Ende niemals ein sinnvolles Ergebnis steht.
    Instinktiv hält Rita die Luft an, um einer möglichen Alkoholfahne zu entgehen. Der Fremde dreht sich nicht einmal nach ihren klappernden Sandalen um. Blicklos starrt er vor sich hin. Der diensthabende Beamte hebt grüßend die Hand, während er weiter in den Hörer spricht. Fast jeden Morgen denkt Rita im Treppenhaus, wie froh sie ist, dass sie bei einer bestimmten Sorte Tagesgeschäft nicht mehr mitmachen muss.
    Ein wenig atemlos erreicht sie ihr Büro im dritten Stock, legt die Strickjacke ab und lässt sich in den schwarzen Ledersessel fallen. Hinter der Milchglasplatte des Schreibtischs fühlt sie sich noch immer wie ein Kind, das zum Spaß in den Schuhen des Vaters durch die Wohnung schlappt. Das macht ihr nichts aus. Sie weiß genau, dass sie das eigene Büro bei ihrem derzeitigen Dienstgrad nur bekommen hat, weil keiner der Kollegen ein Zimmer mit ihr teilen will. Sie liebt diesen Raum, besonders die Kabel des Computers, die unter dem Boden verlegt sind und durch ein Loch im Teppich an den Beinen des Schreibtischs hinaufwachsen. Gemeinsam mit der Reihe makellos beschrifteter Mappen im Aktenregal verbreiten sie eine Atmosphäre von Professionalität, in der Rita jeden Morgen wie in Drachenblut badet, um sich danach dem Kampf zu stellen.
    Neben der Tastatur spreizt sich ein Fächer unerledigter Post. Über Nacht stand das Fenster offen und hat kühle Luft eingelassen, die sich zwischen den dicken Wänden des Gebäudes noch eine Weile halten wird. Tief unten lärmt das übliche Rudel Spatzen in den Rabatten, die ein ehemaliger Friedhofsgärtner zu Tode pflegt. Schadenfroh sieht Rita zu den Kronen der Bäume am anderen Ende des Parkplatzes hinüber. Sie stehen so weit entfernt, dass kein gefiederter Parasit in ihr Büro schauen kann. Läge es im Erdgeschoss, würde Rita Skura ihre Katze mit zur Arbeit bringen.
    Eine Weile blättert sie in Dabbelings Akte. Am eindrucksvollsten sind die Photos, die auch nach der hundertsten Betrachtung nichts von ihrem Schrecken verloren haben. Dabbelings Kopf, der als Geisterbahnrequisite in einer Astgabel klemmt. Derselbe Kopf, wie er auf einer Bahre neben dem verdrehten Körper liegt, zu dem er vor kurzem noch gehörte. Weiß und sauber ragt ein Stück Wirbelsäule aus dem Rumpf; die losen Enden von Halsschlagadern, Luft- und Speiseröhre erinnern an die heraushängenden Schläuche einer zertrümmerten Maschine. Das Opfer, erklärt der Rapport des Gerichtsmediziners, hat die Falle in letzter Sekunde bemerkt und im Schreck den Kopf hochgerissen; andernfalls hätte ihm der Draht den Schädel gespalten. Rita ist Dabbeling nachträglich dankbar für die noble Geste. Sein Zustand ist so schon problematisch genug.
    Unter den neu eingetroffenen Unterlagen befindet sich der Bericht des kriminaltechnischen Labors. Das Ergebnis lässt die Kommissarin wie ein kleines Mädchen in die Hände

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