Schilf
Kopfhörer auf den Ohren und einen schwarzen Kasten neben sich und fummelt mit einem winzigen Schraubenzieher in der Anschlussdose des Telefons herum. Ein zweiter lehnt an der Wand, gibt gute Ratschläge und schnippt Zigarettenasche aufs Parkett. In der Küche sitzt Kriminalhauptmeister Sandström am Tisch und bereitet sich ein Schinkenbrot mit Gurken und Senf. Er hat gefragt, ob er sich den Prosciutto di Parma ausleihen dürfe. Auf der Couch im Wohnzimmer, die Sebastian für immer mit den schlimmsten Tagen seines Lebens in Verbindung bringen wird, hockt eine kleine, in moosgrüne Wolle gehüllte Frau mit dürren Beinen und steckt ihre Adlernase in das Album mit Familienphotos. Ein Vogel in Menschenkleidern könnte nicht fremdartiger aussehen. Das, denkt Sebastian, ist der Experimentalfilm, auf dessen Beginn diese Wohnung und ich die ganze Zeit gewartet haben.
Als er am frühen Morgen in die Heinrich-von-Stephan-Straße aufbrach, ist ihm bei dem Gedanken, dass sich von nun an eine berufene Stelle mit der Situation befassen würde, vor lauter Erleichterung übel geworden. Seine Aussage, vor der er sich gefürchtet hatte, erwies sich als die leichteste Übung. Er musste nur erzählen, was geschehen war (der Greifautomat, traurige Stofftiere, Vera Wagenfort), und dabei auf die Wiedergabe eines einzigen Satzes verzichten: Dabbeling muss weg. Danach ging alles wie von selbst. Eine schier endlose Reihe von Fragen, die sich auf alles Mögliche richteten. Nur nicht darauf, ob er einen Mann umgebracht habe.
Jetzt aber ist es gerade die Arbeit dieser berufenen Stelle, die ihm Übelkeit verursacht. Den Leuten scheint es um vieles zu gehen, allerdings nicht um den Versuch, Liam zurückzubringen. Jedes Mal, wenn er sich sagt, dass die Polizei einer bewährten Routine folgt, hallt dieselbe Erwiderung durch seinen Kopf: Das sind nur Menschen, und sie vermögen nichts.
Er steht im Schlafzimmer vor dem offenen Kleiderschrank und reißt sich den papiernen Anzug vom Körper, als entpackte er ein überdimensioniertes Geschenk, das er gar nicht haben will. Er will sich aufs Bett legen, das Bewusstsein verlieren und den Rest seines Lebens irgendjemandem überlassen, der etwas Nützliches damit anzufangen weiß. Während er sich ankleidet, stellt er sich ein Ultimatum. Bis Mitternacht wird er den Beamten Zeit geben. Danach wird er ihnen sagen, was die Entführer tatsächlich von ihm wollten. Dass sie Chefarzt Schlüter fragen sollen, wo Liam ist.
Auf dem Flur hebt der Techniker einen Daumen, um zu signalisieren, dass die Fangschaltung gleich fertig ist. Die Psychologin lächelt, als Sebastian das Wohnzimmer betritt; dabei öffnet sich unter ihrem Vogelschnabel ein waagerechter Spalt. Sie hat nicht laut gesagt, dass Sebastian ein schmutziges Familiendrama zu verbergen habe. Aber sie beobachtet jede seiner Bewegungen aus den Augenwinkeln und blättert seit Ewigkeiten in dem Photoalbum. Liams erste Lebensjahre werden darin ausführlich dokumentiert. Danach enthält es nur noch einzelne Bilder, auf denen Sebastian, der die Photos gemacht hat, so gut wie nie zu sehen ist.
»Sind gleich so weit. Kann dann losgehen.«
Die Psychologin hat ihn überzeugt, dass als Erstes Maike über die Vorgänge informiert werden müsse. Sollte er sich weigern, würde sie selbst in Airolo anrufen. Der Eifer, mit dem sich die Beamten bemühen, vor dem Gespräch ihre Technik in den Griff zu kriegen, deutet darauf hin, dass sie Liam in Gesellschaft seiner Mutter vermuten. Sebastian weiß, dass es unzählige Fälle gibt, in denen Eltern sich gegenseitig Kinder stehlen. Nur weiß er nicht, auf welche Weise er seinen Gästen klarmachen soll, dass diese Konstellation hier nicht infrage kommt.
»Jetzt läuft’s prima«, erklärt der rauchende Techniker in einem Tonfall, als hätte sein Kollege soeben ein kaputtes Klo repariert.
Er winkt Sebastian heran und reicht ihm einen Telefonhörer, dessen Spiralkabel in dem schwarzen Kasten endet. Sandström kommt mit seinem Schinkenbrot auf den Flur und riecht nach Senf. Er wischt sich die Nase mit dem Handrücken und schiebt sie dabei nach oben, was sein Gesicht für einen Moment in eine Schweinsgrimasse verwandelt. Die Psychologin lehnt im Türrahmen, schiebt den Daumennagel zwischen die Schneidezähne und hört nicht auf, Sebastian freundlich zuzunicken. Wenn er könnte, würde er nicht Maike, sondern Oskar anrufen und ihn bitten, noch einmal zu wiederholen, was er in der vergangenen Nacht gesagt hat: Möchtest du, dass
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