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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Sebastians Aussage gerecht untereinander auf. Kaum sind sie fertig, berichtet Rita Skura, dass dieses Schwein von einem Chefarzt den ganzen Tag nicht auf der Station erschienen sei; dass die Belegschaft ihre Hände weiterhin in Unschuld wasche; dass es also im Fall des ermordeten Oberarztes keine neuen Erkenntnisse gebe und dass dementsprechend auf der Lackschuhetage die Ärsche brennen. Während sie noch schimpft, klingelt das Telefon.
    Die Szene erstarrt und verwandelt sich gleich darauf in ein hektisches Durcheinander. Mitten im allgemeinen Gerede und Gerenne wird Rita Skura zum Chef. Sie schickt einen Techniker an die Apparatur, Sandström auf den Balkon und die Polizeipsychologin mit Sebastian ans Telefon.
    »Erst abheben, wenn ich das Zeichen gebe. Hinhalten. Dumm stellen. Nachfragen. Verstanden?«
    »Das wird meine Frau sein«, sagt Sebastian.
    Herrisch schüttelt Rita den Kopf und lehnt sich, Blickkontakt zum Techniker haltend, mit verschränkten Armen an die Wand. Sebastian bekommt Lust, ein riesiges Glas über sie zu stülpen, eine Pappe unter den Rand zu schieben und die Kommissarin wie ein zappelndes Insekt in den Hof zu werfen. Als sie mit den Fingern schnippt, reicht ihm der Techniker den Hörer.
    »Papa?«
    Liams Stimme kommt nicht nur aus der Muschel, sondern auch aus dem Kasten, an dessen Seite sich die Räder eines Tonbands drehen.
    »Warte, Papa. – Manno, jetzt lasst doch mal!«
    Liam spricht am Hörer vorbei zu jemand anderem. Im Hintergrund ist ein Kichern zu hören, etwas rumpelt. Dann ist er wieder dran.
    »Tschuldigung«, lacht er. »Hier gibt’s nur ein Telefon, und da passen auch nur 50-Cent-Stücke rein. Philipp und Lena ziehen mich dauernd am Arm. Die denken, das ist lustig oder sowas.«
    »Liam«, sagt Sebastian.
    »Papa? Bist du jetzt sauer, weil ich so lang nicht angerufen habe? Das ging echt nicht. Wir sind direkt los, mit Rucksäcken und Zelten. Ich bin nämlich gleich zu den Großen gekommen, weil ich was übers Feuermachen erzählt habe, über den Bündelungseffekt und das Überschreiten der Zündtemperatur. Und über den Irrtum mit den Feuersteinen, dass man in Wahrheit Pyrit dazu braucht, und da haben sie mich gleich mitgenommen auf die Tour …«
    »Liam! Geht’s dir gut?«
    Sebastians unbeherrschter Aufschrei unterbricht Liams Redefluss. Ein Zögern zieht sich in die Länge, dringt aus der Apparatur, umschließt alle Anwesenden und füllt wie eine unsichtbare, gallertartige Masse den Flur.
    »Na klar, super«, sagt Liam endlich. »Ist was, Papa?«
    »Nein«, sagt Sebastian schnell. »Alles in Ordnung. Ich hab mir einfach … Sorgen gemacht.«
    Während Liam nachdenkt, führt Sebastian eine Faust zum Mund und beißt in die weiß hervortretenden Knöchel, um das zuckende Zwerchfell an der Erzeugung unpassender Laute zu hindern.
    »Manche Kinder haben Heimweh«, sagt Liam. »Vielleicht hast du Heimweh nach mir?«
    Das ist zu viel, Sebastian muss das Gespräch beenden. Er deckt den Hörer ab, schlägt die Stirn gegen die Wand und holt noch einmal tief Luft.
    »Du hast es erfasst!«, sagt er im genau richtigen, fröhlichen Ton. »Pass auf, Liam, ich muss Schluss machen. Wir … ich melde mich später bei dir. Oder morgen. Ich meine, ich komme vorbei.«
    »Nein!« Liams Entsetzen ist nicht zu überhören. »Das geht nicht! Wir wollen doch morgen …«
    »Okay, Liam, viel Spaß! Bis bald! Tschüs, Liam! Tschüs!«
    Der Hörer fällt und Sebastian mit ihm. Der Techniker drückt eine Taste, klick, es wird dunkel. Weiches verschließt die Augen, eine fremde Jacke, es riecht nach Mann. Jemand lässt Sebastian vorsichtig zu Boden gleiten. Das rebellische Zwerchfell zwingt ihn zu einem Schrei.

4
    E s gibt Tage, an denen Kommissar Schilf schon beim Aufstehen weiß, dass er seine Wohnung nicht durch die Eingangstür verlassen wird. Schnell und leise schlüpft er in eine seiner militärgrünen Cargohosen, die er in einem Laden für Arbeitsbekleidung kauft und schon getragen hat, bevor sie bei den jungen Leuten in Mode kamen. Er zieht die gepackte Reisetasche unter dem Bett hervor, verlässt das Schlafzimmer und fasst dabei die Klinke mit beiden Händen, um die Tür behutsam zu schließen. Eine Weile steht er dann mit einem Glas viel zu kalter Cola an der Frühstücksbar und schaut sich in der eigenen Wohnung um, als sähe er sie zum ersten Mal. Fünfzehn Jahre lang sind diese Räume Unterkunft geblieben, statt ein Zuhause zu werden. Besonders in der Küche kommt Schilf sich noch immer

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