Schilf
ich zu dir komme?
Diesmal würde Sebastian mit »Ja« antworten.
Der altmodische Hörer wiegt schwer in der Hand. Während Sebastian die Nummer des Sporthotels in Airolo wählt, stecken ihm die Blicke der Polizisten im Rücken.
Im Grunde war das zu erwarten. Maike ist nicht da. Sie ist nicht in die Alpen gefahren, um auf ihrem Zimmer herumzusitzen. Sie macht eine Tour, odr? Hundert Kilometer, odr? Nein, bestimmt kein Handy, der wahre Luxus liegt in der Unerreichbarkeit. Odr? Ein geübtes Lachen. Ja, spätestens zum Abendessen. Sie wird zurückrufen.
Sebastian bittet die Psychologin, ihm die Couch zu überlassen. Er möchte keine Fragen mehr beantworten. Er verbietet den Technikern, Musik oder den Fernseher anzuschalten. Seufzend ziehen die Polizisten Bücher und Zeitschriften aus dem Regal und beginnen zu blättern. Die Psychologin öffnet ein Fenster und belauscht Bonnie und Clyde, die unten im Gewerbebach über den Fortgang der Entwicklungen streiten. Sandströms Handy klingelt in der Küche. Es gibt nichts Neues von der A 81, wo zwei Beamte nach Sebastians Angaben mit Lastwagenfahrern, Klofrauen und Restaurantangestellten sprechen.
Warten. Sebastian besitzt inzwischen so viel Übung in dieser Disziplin, dass es nur wenige Minuten dauert, bis er nicht mehr wahrnimmt, was um ihn herum passiert. Mit zurückgelegtem Kopf starrt er an die Zimmerdecke, deren weiße Fläche auf angenehme Weise seinem Geisteszustand entspricht. Während der Körper in einer warmen Sandwehe zu versinken scheint, steigt das Bewusstsein auf, in sanften Schwüngen um sich selbst kreiselnd. Deutlich spürt Sebastian, wie die Zeit aus der Fassung gerät. Die Kette der Sekunden zerfällt zu winzigen Teilchen. Sein Selbst löst sich auf und lässt doch etwas zurück, mit dem er sich identifizieren kann. Eine Art Beobachtungsposten, der sich außerhalb von Körper und Seele befindet. Von dort aus kann Sebastian darüber nachdenken, warum er so lange an einer Theorie festgehalten hat, die in seinem Gefühl für Zeit und Raum nicht die geringste Entsprechung findet. Es sind nicht viele Welten, in denen er sich bewegt. Es ist ein einziger Kosmos, ein großes Brausen, in dem er außer der eigenen auch die Anwesenheit anderer Entitäten spürt. Sie lassen sich mit Namen belegen, Maike, Oskar, Liam, und sind verwoben in einem Teppich aus Strömungen, in dem Materie und Energie tatsächlich dasselbe sind. Nämlich Information. Ein menschliches Bewusstsein, das aus nichts anderem als Erinnerungen und Erfahrungen besteht, ist pure Information. Man sollte, denkt der Beobachtungsposten namens Sebastian, am Schreibtisch sitzen und sich Notizen machen. Man sollte herausfinden, ob Oskars Versuche, mithilfe einer Quantisierung von Zeit über den Urknall hinauszurechnen, nicht vor allem darauf zielen, die Welt als eine große Informationsmaschine zu begreifen. Man müsste überlegen, ob sie beide nicht seit Jahren an derselben Idee gearbeitet haben, wenn auch von verschiedenen Seiten kommend: dass die Zeit nicht nur im philosophischen, sondern auch im physikalischen Sinne ein Produkt des Bewusstseins und zugleich mit diesem identisch ist. Man müsste sofort mit Oskar sprechen, nach Übereinstimmungen suchen, man müsste … Als es an der Tür läutet, fallen Sebastians Träumereien in sich zusammen und hinterlassen einen einzigen Satz: Der Mensch ist ein Loch im Nichts.
Jemand betritt die Wohnung. Eine weibliche Stimme nennt Sandström einen Idioten und fragt, was sich am zurückliegenden Nachmittag ereignet habe. Eine gute Frage. Sebastians Armbanduhr behauptet, er habe fünf Stunden lang die weiße Fläche der Zimmerdecke betrachtet. Die Frau kommt herein und schlägt dem rauchenden Techniker die Fernsehzeitschrift aus der Hand. Am Morgen hat Sebastian sie schon einmal gesehen, wie sie im Polizeirevier eine Treppe hinaufrannte. Er fand sie schon von hinten unsympathisch. Jetzt lässt sie die Blicke flink durch den Raum wandern, als hätte sie hier irgendwann einmal etwas verloren und sei gekommen, um es abzuholen. Als sie auf Sebastian zugeht, steht ihr das gelockte Haar wie ein Symbol permanenter Aufregung um den Kopf. Die großen Brüste treten unter der eng geknöpften Strickjacke stärker als nötig hervor. Mit einer Pranke von überraschenden Ausmaßen zerquetscht sie Sebastians Finger.
»Rita Skura. Kriminalkommissarin.«
Wenigstens lässt sie ihn in Frieden und befragt stattdessen ihre Kollegen. Sandström und die Polizeipsychologin teilen
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