Schilf
vor, als hätte ihn ein Witzbold in eine Werbeanzeige für modernes Leben geschnitten. Er ist umgeben von gebürstetem Edelstahl und teuren Küchengeräten, die er nicht bedienen kann. Auf einem langbeinigen Hocker zu sitzen kam ihm schon als Halbstarker lächerlich vor. Eine echte Single-Küche, hat der Vermieter beim Einzug erklärt, und der Preis für Stuttgarter Verhältnisse günstig. Aus Pflichtbewusstsein hat Schilf ein paar Postkarten an den Kühlschrank gehängt. Sie zeigen Mallorca, Lanzarote und Gran Canaria. Er hat sie im Urlaub erworben. Ihre Rückseiten sind leer. Er lässt die Cola stehen, räumt die Brotkiste, den unbenutzten Obstkorb und einen Stapel Zeitschriften von der Fensterbank und öffnet das Fenster.
Die zurückweichende Nacht wirft Farbbomben an den östlichen Himmel; dazwischen Wolkengraffiti, das die Sonne bald von den Wänden des anbrechenden Tages gewaschen haben wird. Durch eine Baulücke sieht Schilf zur Straßenkreuzung hinunter, die brachliegt, als wäre das Auto noch nicht erfunden oder schon wieder in Vergessenheit geraten. Ein einsamer Fußgänger schleicht an den Hauswänden entlang, Schichtarbeiter oder schlafloser Künstler, den Mantelkragen aufgestellt, obwohl die Temperatur auch in den Nächten nicht mehr unter zwanzig Grad sinkt.
Der Kommissar dreht das Handgelenk: vier Uhr dreißig am Samstagmorgen; vielleicht sollte er sich diese Uhrzeit patentieren lassen. Es macht ihm schon lange nichts mehr aus, früh aufzustehen. Er kann zu jeder beliebigen Stunde die Augen aufschlagen und aus dem Bett steigen, als wäre nichts gewesen, als gäbe es keinen Schlaf und erst recht keine Träume, auf deren Korridoren der Mensch ein Drittel seiner Lebenszeit vergeudet. Müheloses Frühaufstehen gehört zu den wenigen Fähigkeiten, die das Alter vergrößert. Als junger Mann hat Schilf gern behauptet, er würde niemals alt werden. Wenn man alt sei, warte man nur noch aufs Essen.
Er lächelt und stellt beide Füße auf den Gitterboden der Feuertreppe, die trotz seiner Vorsicht wie ein großer Gong zu klingen beginnt. Warum er an manchen Tagen auf diesem Weg das Haus verlässt und wie ein Einbrecher ins eigene Leben einsteigt, könnte er selbst nicht zufriedenstellend begründen. Manchmal scheint es ihm sinnvoll, die Wirklichkeit samt ihrer grotesken Einfälle auf Schleichwegen zu überrumpeln. Bevor er das Fenster von außen zuzieht, schaut er sich noch einmal nach der Wohnung um. Nichts regt sich. Alles ist so, als wäre der Kommissar wie seit eh und je allein.
Wenn Schilf auf sich selbst zurückblickt, dann glaubt er, vor gut zwanzig Jahren einmal ein ganz normaler Mensch gewesen zu sein. Er hatte einen Beruf, eine Behausung, Leidenschaften, möglicherweise sogar Familie. Dann kam der Bruch. Der junge Schilf erschoss im Einsatz einen Mann, der nur in die Tasche gegriffen hatte, um seinen Autoschlüssel herauszuholen. Oder vielleicht fuhr Schilf am Wochenende zu einem Ausflug in die Weinberge, als ihn ein Tatverdächtiger von der Straße abdrängte – und auf der Rückbank des Wagens hatten seine Frau und sein kleiner Sohn gesessen. Der Kommissar besteht darauf, sich nicht erinnern zu können. »Bruch« ist der Name einer Katastrophe, die sein schlechtes Gedächtnis notdürftig verbirgt.
Was auf den Bruch folgte, verlangte nach einer neuen Person. Aus den Resten seiner Existenz wählte Schilf die funktionierenden Bestandteile. Dazu gehörte seine Arbeit, die er gut konnte, besser als die meisten anderen in vergleichbarer Position. Er stand morgens auf. Er nahm in adäquaten Abständen Nahrung zu sich, benutzte öffentliche Verkehrs- und Genussmittel und kannte den Platz, an dem sein Bett stand. Aber er wartete vergeblich darauf, dass sich diese Tätigkeiten zu einem neuen, vollständigen Menschen summierten. Sein Problem bestand darin, dass er es nicht über sich gebracht hatte, sein Leben auszulöschen, nur weil der Mann, der es geführt hatte, zu Ende gegangen war. Irgendwann begriff er, dass es ums Weitermachen ging. Der Kommissar ist zu einem Künstler des Weitermachens geworden. Bis ihm vor kaum einem Monat zwei Dinge begegnet sind, welche die Ausübung seiner Kunst empfindlich stören: eine Frau und ein Todesurteil.
Das Todesurteil empfing er auf den schweißtreibenden, obszön quietschenden Lederpolstern eines Chesterfield-Sessels. Dieser Sessel gehört zu einem englisch eingerichteten Herrenzimmer, in das Schilfs Hausarzt seine Patienten führt, nachdem er ihnen lange genug
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