Schilf
Universität als jüngster Professor seiner Fakultät. Maike eröffnete ihre Galerie und sorgte dafür, dass Oskar regelmäßig zum Abendessen erschien. Der Alltag nahm die kleine Familie in seinen Dienst.
Seit langem denkt Maike sich nur noch als Teil einer glücklichen Familie. Ganz gleich, wie gut oder schlecht ihr gemeinsames Leben gerade funktioniert, an einer Tatsache hat sie seit Liams Geburt nie wieder gezweifelt: Sebastian und sie bewohnen dieselbe Welt. Und sie ist bereit, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass das so bleibt.
Vielleicht, denkt Maike und schaut einem asiatischen Mädchen entgegen, das einen Metallwagen durch den Gang schiebt, vielleicht ist das, was mich zu Hause erwartet, die Katastrophe, vor der ich mich so viele Jahre mehr oder weniger bewusst gefürchtet habe. Vielleicht trägt die Katastrophe einen weiblichen Namen wie ein Hurrikan. Vielleicht sogar meinen.
Ihre Gedanken drohen schon wieder ins Abstruse zu kippen. Sie kauft bei der Asiatin einen Kaffee. Der Becher ist so heiß, dass sie ihn kaum in der Hand halten kann. Zwei Grenzbeamte erscheinen im Waggon; der Deutsche nimmt Maike den Kaffee ab, damit sie ihren Personalausweis hervorkramen kann.
Was auch immer ihr in Freiburg bevorsteht, denkt sie, während ihr die Sorge mit tausend winzigen Nadeln in die Seiten sticht, auf eins ist Verlass: Wenn Sebastian schwört, dass mit Liam alles in Ordnung ist, stimmt das. Alles andere wird sich ertragen lassen. Nicht zuletzt liebt Maike das Radfahren, weil sie es genießt, beim Einschätzen der eigenen Kräfte recht zu behalten. Sie trinkt, verbrennt sich die Lippen und nimmt trotzdem den nächsten Schluck. Die Schweizer Idylle ist hinter der Grenze zurückgeblieben; draußen dirigiert eine bleiche Sonne die Ouvertüre zu einem weiteren unerbittlichen Sommertag. Wir werden sehen, denkt Maike. Später wird sie zum Kommissar dasselbe sagen: Wir werden sehen. Bis dahin wird sie längst auf den Zeitungsständern des Freiburger Hauptbahnhofs das Gesicht ihres Freundes Ralph Dabbeling entdeckt haben. Es wird eine neu eröffnete Liste der schrecklichsten Tage ihres Lebens geben. Und auf der Liste höchstverdächtiger Personen wird der Kommissar den zweiten Rang einnehmen, gleich vor Oskar, der diese Aufstellung jahrelang angeführt hat, und hinter Sebastian, der es als Neueinsteiger mit einem Sprung auf Platz eins geschafft haben wird.
3
S chneeweißer Putz, der das Sonnenlicht reflektiert. Offen stehende Haus- und Balkontüren, eine von Efeu umrankte Laterne, an der ein hochmodernes Rennrad lehnt. Das Haus, vom Duft des Blauregens parfümiert, ist hübsch anzusehen. Aber es gleicht einer leeren Verpackung. So viel Schönheit verlangt nach Glück, und die Menschen, die hier leben, sind nicht mehr glücklich. Dem Kommissar erscheint alles falsch und leer, als wäre die ganze Straße zur Postkarte, zu einer Erinnerung an sich selbst geworden. Als er den Steg betritt, kommen ihm Bonnie und Clyde auf dem anthrazitfarbenen Band des Gewerbebachs entgegen. Schilf zieht ein Rosinenbrötchen aus der Tasche, das er auf seinem langsamen Spaziergang durch die Innenstadt gekauft hat. Die beiden Enten stellen sich gegen die Strömung, so dass die Brotstücke direkt auf ihre Schnäbel zutreiben.
»Weg-weg-weg«, schnattern sie.
»Pass auf«, ruft der Kommissar ihnen zu. »Pass auf!«
Aber Bonnie und Clyde können mit den Aussagen des Papageien Agfa offensichtlich nichts anfangen. Sie wenden wie zwei Synchronschwimmer und paddeln in flottem Tempo den Bach hinunter. Schilf klopft sich Krümel von den Händen und tritt in den Hauseingang, um die Namen auf den Klingelschildern zu studieren. Gerade hat er gefunden, was er sucht, als ein Donnerschlag den Bauch des Hauses zum Dröhnen bringt. Oben hat jemand eine Tür ins Schloss geworfen. Der Klang schneller Schritte eilt die Treppe hinunter und einer Frau voraus, die gleich darauf am Kommissar vorbei aus der Haustür läuft. Er fasst sich an die Stirn, um einen Hut zu lüften, den er nicht trägt. Das Gesicht der Frau kann er nicht erkennen. Das blonde Haar tanzt ihr aufgeregt um den Kopf und stürzt über die Augen, als sie sich vornüberbeugt, um das Fahrrad aufzuschließen. Einstweilen steht der Kommissar wie versteinert. Die Frau ist mit einem ärmellosen Hemd und einer kurzen Stoffhose bekleidet; das Vormittagslicht verwandelt ihre gebräunten Arme und Beine in poliertes Holz. Im Kontrast dazu wirkt das blonde Haar viel zu hell, als hätte sie es von
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