Schilf
vergangenen Nacht gibt es eine neue Liste, die rätselhafte Telefonanrufe betrifft.
Nachdem der Rezeptionist das Gespräch aufs Zimmer durchgestellt hatte, dauerte es eine volle Minute, bis Maike in dem stammelnden Anrufer ihren Ehemann erkannte. Er bat so lange, unter allen Umständen Ruhe zu bewahren, dass Maike schließlich in Panik geriet. Erst als sie ihn streng zurechtwies, erzählte er seine wirre Geschichte. Liam sei entführt worden, befinde sich aber trotzdem bei bester Gesundheit im Pfadfinderlager. Dort werde Sebastian ihn am Morgen in aller Frühe abholen. Auch sie, Maike, solle ihren Urlaub lieber abbrechen. Das sei zwar eigentlich nicht nötig, aber man könne nie wissen. Vielleicht wolle ihr die Polizei ein paar Fragen stellen.
Wie ein kaputtes Tonband endete Sebastians Bericht mitten im Satz. Während sie schwiegen, rauschte es in der Leitung. Oskar hatte einmal gesagt, dass das ganze Weltall von Rauschen erfüllt sei. An anderer Stelle hatte Maike gehört, dass solche Störgeräusche von Abhörmaßnahmen verursacht würden. Für eine irre Sekunde kam es ihr vor, als ob diese beiden Aussagen dasselbe meinten.
Als sie sich weit genug im Griff hatte, um zu fragen, was um Himmels willen passiert sei, drangen harte Schluckgeräusche aus dem Hörer. Sebastian verlangte, dass sie ihm glaube. Erst bettelte er, dann schrie er plötzlich. Er könne auch Oskar anrufen. Der werde zu ihm stehen. Maikes Schreck verwandelte sich in Wut. Sie forderte ihn auf, sich zusammenzureißen. Darauf erhielt sie überhaupt keine Antwort mehr. Endlich merkte sie, dass Sebastian im Begriff stand, am Telefon einzuschlafen. Das erschreckte sie mehr als jedes seiner Worte. Sie versprach, am Morgen den ersten Zug nach Freiburg zu nehmen. Er schwor, dass Liam wirklich nichts zugestoßen sei, bevor er die Verbindung unterbrach.
Jetzt lehnt sich Maike schräg in die Polster und streckt die Beine. In der Sitzgruppe gegenüber hat eine Nonne den Rosenkranz so fest um die Hand gewickelt, dass er rot geränderte Kerben in die Knöchel schneidet. Die Nonne belästigt jeden Passagier, der vorbeikommt, mit einem Gesprächsversuch, als wollte sie dem armen Herrn Jesus beweisen, dass die Menschen noch lange nicht von ihm in Ruhe gelassen werden wollen. Liebe deinen Nächstbesten. Maike schaudert. Dem sauberen Schaffner mit dem hübschen Schweizerisch dankt sie überschwänglich für das Kontrollieren ihres Billetts .
In der Nacht hat sie wenig geschlafen und viel Zeit mit dem Durchspielen verschiedener Szenarien verbracht. Ein gescheiterter Entführungsversuch. Oder: Liam hat sich im Wald verlaufen und wurde wiedergefunden. Oder auch: Sebastian hat böse geträumt, in somnambulen Zustand bei ihr angerufen und wird, wenn sie nachher zur Tür hereinspaziert, aus allen Wolken fallen.
Gegen Morgen verloren ihre Überlegungen an Kontur, die Hypothesen wurden absurder, die Fragen zielten ins Nirgendwo. Ihre Gedanken begannen, in Bildern zu arbeiten und sich um eine zehn Jahre zurückliegende Nacht zu drehen, als wäre dort noch immer die Ursache für alle dunklen, unverständlichen Anteile in Maikes Leben zu suchen. Es war die Nacht jenes Tages, der auf Platz eins der Liste ihrer liebsten Erinnerungen rangiert.
Ein Festsaal, vernebelt von Zigarettenrauch. Eine fröhliche Menschenmasse wiegt sich zur Musik. Freunde, Bekannte, Verwandte und dazwischen eine scharfkantige Gestalt, die ziellos umherwandert, nervös, auffällig wie ein Schatten, der seinen Herrn verloren hat. Maikes freudiges Erschrecken (oder war es schreckliche Freude?), jedes Mal, wenn dieser Schatten im Gewühl auf den frisch gebackenen Ehemann trifft. Stolz und kalt sehen sich die Männer in die Augen. Irgendwann packt Maike, schon heillos betrunken, die beiden an den Frackärmeln und versucht, sie zu einem Tanz à trois zu zwingen. Die Gäste klatschen und johlen. Oskar reißt sich los und verlässt ohne ein Wort die Party. Dann Sebastians Gesicht in Großaufnahme, wie er Maike, kaum dass Oskar weg ist, mit weit geöffneten Kiefern küsst.
Im ersten Jahr ihrer Ehe rechnete Maike täglich damit, dass etwas aufbrechen und emporsteigen könnte aus den Tiefen des Mannes, der sie jeden Morgen über den Frühstückstisch hinweg anlächelte. Etwas, das sich mit Verständnis und gutem Willen nicht besiegen ließ. Aber nichts dergleichen geschah. Sebastian entwickelte sich von einer Ausnahmeerscheinung zum guten Ehemann und liebenden Vater. Er erhielt den Ruf an die Freiburger
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