Schilf
einer anderen, blassen Person geliehen. Die Frau ist wütend. Sie wirft ihr Fahrrad herum, schwingt ein Bein in die Luft und schiebt, schon in voller Fahrt, die Fußspitzen in die Schlaufen der Pedale. Wenige Sekunden später ist sie in eindrucksvoller Schräglage um die nächste Ecke verschwunden. Dem Kommissar kommt es vor, als hätte er noch nie einen schöneren Menschen gesehen.
Er verzichtet auf das Betätigen der Klingel und steigt die Treppe hinauf, bis er im zweiten Stock eine Wohnungstür erreicht, der anzusehen ist, dass jemand hinter ihr lauscht. Er tritt näher, legt ein Ohr ans Holz und setzt dem fremden Lauschen sein eigenes entgegen. Die Anspannung würde eine Glühbirne zum Leuchten bringen. Zwei Männer, getrennt nur durch ein Brett, richten mit aller Kraft ihre Sinne aufeinander, als wollten sie zu einem einzigen Wesen zusammenfließen. Die Tür wird aufgerissen.
Sebastian steht auf der Schwelle und trägt die Reste eines jäh unterbrochenen Streits auf den Lippen, die Lungen aufgepumpt, das Gaumensegel zum Schreien gespannt. Hilflos wandert sein Blick zwischen den Augen des Kommissars hin und her.
»Haben Sie einen Mülleimer?«, fragt Schilf.
Er streckt seinem Gastgeber in spe eine zerknüllte Papiertüte entgegen, aus der Brötchenkrümel fallen. Mit einer schnellen Bewegung schlägt Sebastian ihm das Knäuel aus der Hand.
»Verschwinden Sie!«
Selbstverständlich hat der Kommissar längst den Fuß in der Tür. Durch den schmalen Spalt sehen sie einander ins Gesicht. Statt zu fluchen und weiter um das Betreten der Wohnung zu ringen, stehen sie plötzlich dicht beisammen, wie eingeschlossen von einer Kapsel aus Stille, in der etwas geschieht, für das die Sprache keinen Begriff bereithält. Eine Begegnung. Ein gemeinsames Innehalten am Schnittpunkt zweier verschiedener Sorten von Unordnung.
Die endgültige Verstrickung unserer Lebenswege, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
Zeit vergeht in Gestalt eines tropfenden Wasserhahns in der Wohnung hinter Sebastians Rücken. Zeit vergeht als Pressluftgehämmer in einer fernen Nebenstraße. Wahrscheinlich gäbe es eine Menge Fragen zu besprechen. Warum jeder von ihnen das Gefühl hat, der andere sei gekommen, um ihm zu helfen. Ob man verhindern kann, dass ein Leben auseinanderbricht. Wie man es nachträglich kittet. Ob es zwischen Fremden etwas gibt wie Wiedererkennen auf den ersten Blick.
Aber sie können nicht ewig so stehen bleiben.
»Professor«, sagt Schilf leise und wie bedauernd, »ich bin von der Polizei.«
Sogleich gibt Sebastian die Tür frei und geht auf steifen Beinen über den Flur. Ohne sich nach seinem Besucher umzusehen, lässt er sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, stützt die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände.
»Es tut mir leid«, sagt der Kommissar, als Sebastian nach einer Weile aufschaut und sich die geröteten Augen reibt, »aber ich bin immer noch da.«
Schon wieder sickert Stille in den Raum, diesmal ohne Intimität. Das Schweigen gleicht dem zweier Reisender, die am Bahnhof auf verschiedene Anschlusszüge warten. Während Sebastian an die Decke blickt, als gäbe es dort oben etwas zu sehen, schaut sich der Kommissar im Zimmer um. Die Möbel haben ihren Zusammenhalt verloren, der sie einst zu einer geschmackvollen Einrichtung verband. Sie stehen teilnahmslos herum wie Komparsen zwischen den Auftritten.
Hier, denkt Schilf traurig, ist alles binnen Sekunden zu Vergangenheit geworden.
Er lauscht auf das Echo einer Szene, die das Zimmer mitverfolgen musste, weil Gegenstände keine Ohren besitzen, die sie zuhalten können. Noch immer huscht der Schatten eines Mannes über die Wände, eilt auf der Suche nach einem Ausweg hierhin und dorthin, die Arme erhoben wie zum Schutz gegen etwas Schweres, das auf ihn herabzustürzen droht. Im Lederbezug des Sessels stecken die Schreie einer Frau.
Das ist ein Film! Das ist nicht die Wirklichkeit!
Den Zeitschriftenstapel auf dem Couchtisch haben ihre manikürten Finger durcheinandergebracht; sie wollte die Magazine zu Boden schleudern und hat es dann doch nicht getan.
Ralph tot ? Mein Sohn entführt ? Und ich fahre Rad in Airolo, glücklich und ahnungslos?
Glück und Ahnungslosigkeit, denkt Schilf, sind Synonyme, liebe Physikerfrau.
Die Sofalehne bebt unter den Schlägen einer Männerfaust.
Sieh! Mich! An! Ich konnte dich nicht anrufen, verdammt!
Eine Pause, ein Durchatmen.
Nicht so laut!
Das Lachen des Mannes bewegt die Vorhänge.
Keine Sorge, der
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