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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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schläft wie tot. Das Reisemedikament.
    Das Lachen verebbt. Auf der Glasplatte des Couchtischs verdunstet der Abdruck einer Frauenhand.
    Etwas ist … aus der Ordnung … ich kann nicht …
    Und ich ?
    Das Anschwellen der männlichen Stimme lässt die Wände auseinanderfahren, vergrößert den Raum zur Kathedrale, in der jedes Wort sekundenlang hallt.
    Willst du wissen, was ich durchgemacht habe? So fühlt sich das an, so!
    Der Sessel springt zur Seite, als ein schmaler Körper, heftig an den Schultern gerüttelt, gegen ihn fällt.
    Sebastian, lass mich los!
    Der letzte Aufschrei ist wie ein Blitz, die zuschlagende Wohnungstür der Donner. Übrig bleibt die Ruhe nach dem Sturm. Blanker Hohn. Der Hund des Nachbarn bellt mit drei Stimmen, klein, mittel und groß.
    »Kennen Sie das Gefühl, alles verloren zu haben?«, fragt Sebastian.
    »Besser, als Sie sich vorstellen können.«
    »Wie heißen Sie überhaupt?«
    Schilf. Langsam holt Sebastian seinen Blick von der Decke herunter und wiederholt den Namen, der ihm gut über die Zunge geht. Schilf.
    Ihre Blicke kreuzen sich. Irgendwo in der Wohnung fällt etwas zu Boden, niemand wendet den Kopf. Der Kommissar wundert sich, wie dunkel es plötzlich ist. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens heben den Raum an und drehen ihn um die eigene Achse; Sebastian sitzt auf dem Sofa, Schilf im Sessel; Schilf auf dem Sofa, Sebastian im Sessel. Dann ist der Wagen vorbei. Sie nicken sich zu. Auf den Feldern vor der Stadt arbeiten die Mähdrescher; irgendwo stöhnt Julia im Schlaf. Keuchend stößt der Kommissar Luft aus, einmal ( ovum ), zweimal ( avis ). Im Inneren des Vogeleis pickt ein scharfer Schnabel gegen die Schale. Es ist wieder hell, ein Sommermittag, mit staubigen Lichtbalken am Fenster. Sebastian beobachtet Schilf mit einer Mischung aus Misstrauen und Interesse. Er beugt sich vor. Fast sieht es aus, als wollte er den Kommissar bei den Händen nehmen.
    »Ich will keine weiteren Ermittlungen«, sagt er.
    »Sie wollen nicht wissen, wer Ihren Sohn entführt hat?«
    »Ich will vergessen.«
    »Ganz schlechte Taktik. Das merkt man erst, wenn es zu spät ist.«
    »Mich interessiert kein zu spät. Mich interessiert, was jetzt ist. Die Bedeutung des Wortes Zukunft ist mir abhandengekommen. Verstehen Sie? Es gibt Situationen, in denen man einen Schlussstrich ziehen muss.«
    »Schon bevor Sie angefangen haben, so ausführlich zu werden«, sagt der Kommissar.
    Als Sebastian die Arme hebt, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, sehen sie beide, wie stark seine Hände zittern. Die Haut unter den zurückgerutschten Ärmeln ist dicht an dicht mit zerkratzten Stichen besetzt, manche feucht und entzündet, andere gelblich verschorft. Sebastian schließt die Knöpfe an den Manschetten.
    »Was wollen Sie trinken?«
    »Yogi-Tee.«
    »Was bitte?«
    »Schauen Sie in der Küche nach. Eine Frau wie die Ihre besitzt so etwas.«
    »Woher kennen Sie Maike?«
    »Sie ist eben an mir vorbeigelaufen.«
    Sebastian zögert, bevor er aufsteht und den Raum verlässt. Schilf lauscht auf das Rumoren in den Küchenschränken, das abbricht, als Sebastian die Packung gefunden hat. Leise steht der Kommissar auf und durchquert das Zimmer, so vorsichtig, als lägen überall trockene Zweige, die unter den Füßen brechen könnten. Ohne Mühe findet er das Arbeitszimmer. Bücher füllen die Regale und liegen in Haufen am Boden. Ein seltsam geformtes Stück roter Bastelpappe verdeckt die Computertastatur auf dem Schreibtisch. Mit geübten Fingern durchblättert Schilf einen Stapel Papiere.
    »Die Präzisionsproblematik der Naturkonstanten.« – »Von der Zweckmäßigkeit der Absurdität.« – »Der Materialismus und die metaphysische Landwirtschaft.« – »Wir können nicht behaupten, dass das Universum im Hinblick auf einen lebenden Beobachter entworfen wurde …«
    Oder von einem Beobachter, denkt der Kommissar.
    Er öffnet und schließt Schubladen. Ein Yogi-Tee muss 15 bis 20 Minuten auf kleiner Flamme köcheln.
    Bleistifte, gebrauchte Büroklammern. Briefpapier der Universität. Ganz hinten ein Photo, auf dem zwei junge Männer in feierlichen Anzügen beisammenstehen, gertenschlank, die Hände lässig in die Taschen ihrer gestreiften Hosen geschoben. Obwohl die Gesichter einander zugekehrt sind, verlieren sich die Blicke in unbestimmter Ferne. Schilf legt das Bild zurück. Zwischen solchen Unterlagen stößt ein normaler Kommissar auf den entscheidenden Hinweis. Schilf findet

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