Schilf
der sie untersucht. Irgendwann schloss ich Frieden mit der Frage, ob der Wissenschaftler in einer objektiven Wirklichkeit oder in einer Welt der Erscheinungen um Wahrheiten ringt. Statt mich weiter zu quälen, ärgerte ich Kollegen mit der Behauptung, dass wir Psychologie betrieben anstelle von Physik. Reine Definitionssache, nicht wahr? Kein Grund zu verzweifeln, solange die Logik existiert, dieses altbewährte Geländer über bodenlosen Abgründen. Vielleicht hat man mich nicht umsonst einen Esoteriker genannt.
Aber sicher, rauchen Sie! Damit werden Sie zu einer von zwei Personen, denen das in diesen Räumen gestattet ist. Hier ist der Aschenbecher, an dessen Gegenständlichkeit Sie glauben können oder nicht. Seinen Zweck wird er so oder so erfüllen.
Ganz ähnlich ist es mit der Zeit. Sie erfüllt ihren Zweck, und viel mehr wissen wir nicht von ihr. Nach allgemeiner Überzeugung ist sie ein streng geregeltes Verfahren, die notwendige Reihenfolge von Ursache und Wirkung. Das Einzige, was die Menschheit friedlich teilt, sind ihre Irrtümer!
Nehmen Sie dieses Haus. Im Jahr 1896 wurde mit dem Bau begonnen; 1897 hallte das Hämmern der Zimmerleute durch die Straße; bald darauf war das Gebäude fertig. Was, glauben Sie, kann als Ursache seiner Erbauung gelten? Wohnungsknappheit in den Gründerzeitjahren? Oder die ästhetische Liebe zu Neugotik und Neobarock? Ich werde es Ihnen sagen, Kommissar Schilf. Ursache für den Bau war seine Fertigstellung.
Sie lächeln. Aber es spricht einiges für meine These. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem Vorhaben eines Architekten ein Haus wird? Raten Sie ruhig. Achtzig Prozent? Gut. Die Wahrscheinlichkeit, dass dem fertigen Gebäude ein architektonisches Vorhaben vorausging, liegt bei annähernd hundert Prozent. Der Bauvorgang ermöglicht das Haus. Aber das Haus bedingt den Bauvorgang. Folglich liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gebäude die Ursache seiner eigenen Erbauung ist, um einiges höher als die der gegenteiligen Annahme.
Sie lächeln noch immer. Was, frage ich Sie, ist die Zeit, wenn wir beweisen können, dass eine Wirkung ihrer eigenen Ursache logisch vorausgeht? Jetzt lachen Sie. Ich glaube, Sie haben mich von Anfang an verstanden. Das sehe ich an Ihren leeren Augen.
Sagen Sie nichts. Vergessen Sie dieses kleine Gedankenspiel. Es diente nur dazu, an den Toren Ihrer Phantasie zu rütteln. Bitte benutzen Sie nicht die Untertasse, Schilf, ich habe doch extra einen Aschenbecher gebracht. Oder können Sie den nicht sehen?
Kommen wir zur Viele-Welten-Interpretation. Sie müssen wissen, dass Gott an ihrer Entstehung schuld ist, besser gesagt: seine Nicht-Existenz. Dem menschlichen Leben liegt dummerweise ein Wunder zugrunde. Damit meine ich einen beeindruckenden Fall von Koinzidenz. Im Urknall besaß das Universum eine geradezu unendlich große Menge von möglichen zukünftigen Entwicklungen. Der Anteil von Möglichkeiten, die biologisches Leben erlauben, war verschwindend klein. Dennoch hat man sich für jene Variante entschieden, die unser Dasein hervorbrachte. Sämtliche Naturkonstanten, die wir beobachten, sind exakt darauf eingestellt, dass ein unbedeutendes Häufchen Biomasse namens Mensch zwischen ihnen bestehen kann. Bei einer noch so kleinen Abweichung von den geltenden physikalischen Gesetzen gäbe es uns nämlich nicht.
Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen, Herr Kommissar: Sie sind unwahrscheinlich. Ich bin unwahrscheinlich. Wir sind ein Zufall mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zuzehn hoch neunundfünfzig. Eine Eins mit neunundfünfzig Nullen, Schilf! So oft müssen Sie die Würfel werfen, damit wenigstens einmal Ihr Dasein dabei herauskommt.
Wird Ihnen schlecht angesichts solcher Zahlen? Schwindelig? Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Wie ungeschickt war es, in dieser Lage einem Gott den Laufpass zu geben, der doch extra als Uhrmacher dieser Präzisionsmaschine namens Universum ersonnen wurde! Der Physiker, allein gelassen, erhebt die eigene Existenz zum Zweifelsfall und ermittelt gegen sich selbst. Was wäre, wenn im Urknall nicht nur eine, sondern zehn hoch neunundfünfzig Welten entstanden wären? Mindestens eine davon mit Bedingungen, die der Mensch zum Leben braucht? Damit, Kommissar Schilf, wird die Frage nach Gott zu einem statistischen Problem.
Sie haben diesen Satz schon einmal gelesen? Und ich habe ihn geschrieben. So haben wir beinahe etwas gemeinsam.
Seit die Quantenmechanik herausgefunden hat, dass kleinste
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