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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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nichts.
    Längst sitzt er wieder im Sessel, als Sebastian den Tee aufträgt. Der Geruch von Ingwer und Kardamom erobert den Raum.
    »Schmeckt nicht einmal schlecht.«
    Behutsam setzt Sebastian die Tasse ab; seine Hände haben sich beruhigt.
    »Kaufen Sie Kunst?«, fragt Schilf und deutet auf zwei schwielige Gemälde, deren dick aufgetragene Farbexplosionen in Rot und Schwarz einen pochenden Kopfschmerz darstellen. Offensichtlich war der Künstler anderer Ansicht; er hat den Titel der Bilder in groben Lettern quer über die Leinwände gepinselt: Erpressung I und II.
    »Meine Frau betreibt eine Galerie.«
    »Und fährt gern Rad?«
    »Ist das der Beginn des Verhörs?«
    »Kein Verhör.« Schilf winkt abwehrend mit dem Teelöffel. »Eine Befragung.«
    »Wo liegt der Unterschied?«
    »Bei Ihnen. Sie sind kein Tatverdächtiger. Sondern Anzeigeerstatter und Zeuge.«
    Sebastian lacht und antwortet nicht.
    »Wenn Sie bereit sind«, sagt Schilf, »würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
    »Zur Entführung?«
    Jetzt lacht der Kommissar.
    »Nein. Zum Wesen der Zeit.«

4
    S ie sind ein merkwürdiger Kommissar. Nicht, dass ich nicht über das Wesen der Zeit reden möchte. Das ist schließlich mein Beruf. Aber wollen Sie wirklich, dass ich zu Ihnen spreche wie zu meinen Erstsemestern? Das käme mir schon fast wie eine Reise in die Vergangenheit vor. Als wäre das alles vorbei. Wollen Sie mir eine Freude machen? Soll ich mit Ihnen reden, als wäre nichts passiert? – Jetzt sehen Sie mich an wie eine Puppe ohne Gehirn.«
    Sebastian nimmt einen Schluck Tee und noch einen zweiten und einen dritten, bevor er weiterspricht.
    »Zu Schulzeiten wollte ich einmal eine Geschichte schreiben, in der ein Mensch feststellt, dass er nur von Puppen umgeben ist. Keine Ahnung, was aus dieser Geschichte wurde. Aufgeschrieben habe ich sie nicht. Ich werde also mit Ihnen reden wie mit einer Puppe, Herr Kommissar. Wie mit einem – Freund.
    Wissen Sie, was Materialismus ist? Liebe zum Geld? Nein. Vielleicht auch. Der Materialismus, den ich meine, ist eine Weltanschauung, die alles auf ein Prinzip zurückführt: das der Materie. Selbst Ideen und Gedanken sind nach dieser Ansicht bloß eine Erscheinungsform des Materiellen. Träume zum Beispiel – ein biochemisches Produkt.
    Eine beliebte Auffassung. Sie hat den religiösen Glauben nicht nur beseitigt, sondern gleich ersetzt. Die Gebote des Materialismus sind dreifaltig und schlicht. Du sollst die Dinglichkeit des Universums nicht bezweifeln. Du sollst blind auf die chronologische Kausalität aller Ereignisse vertrauen. Du sollst die Objektivität und Einzigkeit der erfahrbaren Wirklichkeit ehren.
    Diese Glaubenssätze verankern den Materialisten in der Welt, wie Gott es nicht besser konnte. Zwar gibt es hier und da Phänomene, die den materialistischen Prinzipien – scheinbar! – widersprechen und deshalb – einstweilen! – unerklärlich bleiben. Aber gegen solche Zweifelsfälle gibt es ein unfehlbares Heilmittel. Man klebt einfach Etiketten über die Löcher im Weltbild. Ein Beispiel?
    Nicht einmal der genialste Wissenschaftler hat eine Ahnung, warum der Apfel von oben nach unten fällt, und diese Ahnungslosigkeit nennt er Gravitation. Auch Zufall ist ein solches Etikett. Vielleicht auch Déjà-vu und Intuition. Durch Benennung dingfest gemachte Unbegreiflichkeiten. Sie sagen, 99 Prozent aller Begriffe seien solche Etiketten? Sie mögen recht haben. Wäre ich in der Lage, alle Wissenschaften zu einer einzigen zu verbinden, es käme etwas heraus, das es schon lange gibt: die Sprache.
    Etiketten habe ich nie gemocht. Als Schüler fiel es mir schwer, einem Lehrer zu glauben, der Zahlen an die Tafel schreiben, aber nicht erklären konnte, was Schwerkraft ist. Statt länger zuzuhören, wartete ich, bis ich alt genug war, um Kant zu lesen. Schon immer hatte ich meinen Verstand heimlicher Umtriebe verdächtigt. Ich ahnte, dass er der Wahrnehmung etwas hinzufügt; dass er alles Wahrgenommene in eine vorgefertigte Ordnung bringt. Auf diese Weise erschafft er eine Welt, die ihm begreiflich ist. Kant konnte das beweisen. Er zeigte mir Zeit und Raum als Formen der menschlichen Anschauung. Es ging nicht darum, ob ich ihm glaubte. Ich fühlte , dass er richtig lag.
    Alle Wege führen zur Erkenntnis, und keiner führt zurück! Lange litt ich unter der Tatsache, dass sich meine Forschungen offensichtlich nicht auf kleinste Teilchen und ihre Gesetzmäßigkeiten beziehen, sondern auf den Physiker,

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