Schilf
Name gefallen ist, springt Maike auf. Sie schaut sich um, als hätte sie sich in der Tür geirrt und wäre versehentlich in eine fremde Unterhaltung hineingeraten.
»Woher kennen Sie Ralph?«
»Aus der Zeitung.«
»Stand da auch, dass ich mit ihm befreundet war?«
»Das weiß ich von Sebastian.«
»Sie lügen!«, ruft Maike.
Womit sie recht hat, denn es war nicht Sebastian, der dem Kommissar von Maikes Bekanntschaft mit Dabbeling erzählt hat, sondern Maike selbst, genauer gesagt, ihr Rennrad in Kombination mit der Blässe ihrer Wangen, auf denen die Sonnenbräune wie ein künstlicher Anstrich wirkt. Mit beiden Händen, die sie in die Taschen geschoben hat, knetet sie das Innenfutter der Hose.
»Wer sind Sie?«
»Es tut mir leid.«
»Gehen Sie.«
Maike tritt an ihn heran, bis sie steil auf den Sitzenden herabsehen kann. Schilf erhebt sich schwerfällig. Er kann verfolgen, wie sie um Fassung ringt und verliert. Die Selbstbeherrschung fällt von ihr ab wie ein zerbrochenes Visier; zum Vorschein kommt ein Ausdruck nackter Wut. Schilf fühlt sich nicht gemeint, als sie ein rührendes Paar geballter Fäuste hebt. Es ist Sebastians Brust, auf die sie einschlägt, Sebastians Haut, in die sie ihre Fingernägel krallt. Es ist auch sein Arm, der sie festhält, und sogar seine Stimme, die beruhigende Laute von sich gibt. Maike versinkt in einer Umarmung, die der Kommissar nicht gewollt hat. Unter Maikes Körper spürt er die Nachgiebigkeit seines Bauchfetts, die ganze Weichheit seiner Vorderseite. Es dauert nur Sekunden, bis Maike ihn von sich stößt und Abstand gewinnt. Die Rothaarige sieht zu ihnen herüber, gleichgültig wie eine Maschine, die für derartige Vorkommnisse keine Programmierung besitzt.
»Ich bin hier, um Sie zu warnen.«
Der Kommissar hört das süßliche Flüstern eines abgewiesenen Galans; es kommt aus seinem eigenen Mund. Schnell holt er seine Hände zurück, die sich aus unerfindlichen Gründen nach Maike strecken.
»Egal, was passiert, Sie müssen zu Sebastian halten. Er …«
»Wir werden sehen«, sagt Maike.
Sie wischt sich Feuchtigkeit aus dem Gesicht und glättet ihr Haar. Noch fünf Sekunden und sie wird sich wieder in die unverletzliche Galeristin verwandeln, in eine Verwalterin fremder Schicksale, Verkäuferin bildgewordener Trauer. Noch drei.
»Machen Sie keinen Fehler. Überlassen Sie alles Weitere mir.«
»Hauen Sie ab.«
Sie schreit nicht; sie formuliert eine höfliche Bitte. Der Kommissar gehorcht. Die Türklingel spielt »Freude schöner Götterfunken«. Maike tritt ans Schaufenster und schaut ihm nach, wie er mit kleinen Schritten die Gasse hinuntergeht und dabei die Knie hebt, als müsste er eine ganze Reihe von unsichtbaren Schwellen überschreiten. Er braucht unerträglich lang bis zur nächsten Ecke, an der er sich, statt abzubiegen, einfach in Luft auflöst.
7
R ita Skura hat einen beschissenen Tag, einen von der Sorte, die mit jeder vergehenden Minute schlimmer wird. Gegen vierzehn Uhr sinkt sie in einen der Sessel, die auf allen Etagen für Schwächeanfälle bereitstehen. Selbst hinter geschlossenen Augen sieht sie Gestalten in Bademänteln über Gänge schlurfen und hört das klatschende Geräusch von Pantoffeln, die lose an nackten Füßen hängen. Seit dem Morgen umnebelt sie der Geruch eines Desinfektionsmittels, das Sauberkeit verbreiten soll und doch nur an schuppige Kopfhaut, wund gelegene Rücken und aufgeschnittene Geschwüre denken lässt. Mit gleicher Hartnäckigkeit wird Rita vom Licht der Neonröhren verfolgt. Es schminkt selbst gesunde Gesichter zu Elendsgrimassen und macht den Sommertag draußen zu einer höhnischen Kulisse, nicht glaubwürdiger als das Alpenpanorama einer Schokoladenreklame.
Rita Skura ist jung genug, um Gesundheit für eine Frage der richtigen Einstellung zu halten. An einem solchen Ort ist sie eine Fremde. Die Tatsache, dass Menschen einander mit Metallstücken durchbohren oder in blutige Einzelteile zerlegen, fand sie schon immer erträglicher als jene Darbietungen des Verfalls, die das sogenannte natürliche Sterben begleiten. Am Endpunkt der menschlichen Herrlichkeit stellt sich die Frage, warum jemand wie Rita mit ganzer Kraft Leute jagt, die nichts weiter getan haben, als den quälend langsamen Untergang durch einen schnellen zu ersetzen. Die wahren Verbrecher – Krankheit, Sterblichkeit und die Angst davor – kann niemand hinter Gitter bringen.
Derartiges denkt Rita, die in einem seelenlosen Kunstledersessel lehnt
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