Schilf
eine andere Wendung zu geben. Aber unverzeihliche Fehler, erkennt der Beobachter in Sebastian, zeichnen sich nicht durch Unachtsamkeit, Irrtum oder das Fehlen besseren Wissens aus. Ihre Besonderheit besteht darin, auch bei Kenntnis aller Umstände keine Alternative zuzulassen.
Mit mehrstimmigem Knacken schnappt die Zentralverriegelung auf. Die Vibrationen des anspringenden Motors übertragen sich auf Arme und Beine. Als ganz normaler Mensch steuert Sebastian den Kleinwagen durch die Gassen des Viertels, in dem er wohnt, einkauft und arbeitet. Er fährt über die Ausfallstraße, wo zu allen Tageszeiten der Verkehr fließt, als wäre noch nie auf der Welt irgendetwas von Bedeutung geschehen, hinein in das gewaltige Netz aus Verbindungen, Anschlussstücken und Knotenpunkten, das den Planeten umspannt wie Synapsen ein riesiges Gehirn. Es ist erstaunlich, wie wenig dazugehört, eine verheerende Entscheidung zu treffen, denkt Sebastian. Wenig später erreicht er die Autobahn.
3
E s ist nicht so, dass Rita Skura und Kommissar Schilf überhaupt nichts gemeinsam hätten. Genau wie Rita hat Schilf als Kind die Vögel gehasst. Er hatte konkrete Gründe dafür. Sie fraßen die Schmetterlinge, mit denen er unter dem Nussbaum erkenntnistheoretische Diskurse führte. Sie hatten starre Gesichter, die niemals Schmerz oder Freude zeigten. Sie blickten ihn unverwandt an und verbargen ein Wissen, das sie, wie er meinte, völlig unverdient besaßen. Ihm schien es ungerecht, dass sie allein die Erde von oben sahen. Wäre ihm damals schon klar gewesen, dass es stets der Beobachter ist, der die Realität erschafft, hätte er die Vögel als Urheber einer misslungen Welt noch mehr verachtet.
Außerdem veranstalteten sie einen nervtötenden Lärm, ohne sich um andere Wesen zu scheren, die nachdenken, spielen oder schlafen wollten. Nicht selten kam der kleine Schilf mitten in der Nacht ans Bett der Eltern. Ich kann nicht schlafen, rief er, die Vögel brüllen im Garten und trampeln übers Dach!
Darüber lachten die Eltern noch Jahre nach seinem Auszug. Schilf konnte das nicht lustig finden. Weil seine Eltern ihm in jenen schlaflosen Nächten versicherten, dass weit und breit kein Vogel zu hören sei, glaubte er fortan, sie steckten mit dem Feind unter einer Decke.
Daran hat Schilf schon lange nicht mehr gedacht; jetzt muss er davon geträumt haben. Er ist mit dem Gefühl erwacht, etwas Schnabelspitzes dringe in den weichen Innenraum seines Schädels. Wenn man ihm endlich mehr Ruhe zum Nachdenken ließe, könnte er sich fragen, was der kleine Kommissar zum Vogelei im Kopf des großen Kommissars gesagt hätte.
Verwirrt liegt er in einem düsteren Raum und braucht eine Weile, bis er sich zurechtfindet. Die Schatten, die um ihn herumstehen, sind die Möbel seiner Freiburger Dienstwohnung, und der schrille Ton, der an seinen Nerven zerrt, stammt nicht aus einer Vogelkehle, sondern von einem klingelnden Telefon. Erfolglos drückt Schilf die Tasten seines Handys, bis er auf die Idee kommt, vom Sofa zu springen und das fest installierte Telefon abzunehmen.
»Rita, bist du’s?«
Auf der anderen Seite ertönt ein helles Lachen:
»Tut mir leid, hier gibt’s keine Rita. Ich bin’s.«
Es gibt nicht viele Ichs im Leben des Kommissars. Die meisten Menschen, die er besser kennenlernt, verschwinden früher oder später hinter den Gittern einer Strafvollzugsanstalt. Deshalb muss er nicht lang überlegen.
»Woher hast du die Nummer meiner Dienstwohnung?«
» Du hast sie mir gegeben.«
Julia hat recht; zu jedem Ich gehört ein Du. Seit Schilf seiner neuen Freundin begegnet ist, hat sie kein einziges Mal unrecht gehabt. Das scheint sie nicht einmal befremdlich zu finden. Der Kommissar kann sie vor sich sehen, wie sie im Sessel neben dem Telefontisch liegt und mit dem Zeigefinger im Loch einer Socke bohrt.
»Habe ich dich geweckt?«, fragt sie.
Schilf hatte noch keine Gelegenheit, das Licht anzuschalten. Hinter den angelehnten Türen von Küche und Bad lagert undurchdringliche Dunkelheit, als würde dort die Nacht für das ganze Land hergestellt.
»Nein«, behauptet er trotzig. »Was willst du?«
Wieder das Lachen.
»Fragen, wie’s dir geht.«
Kein ungewöhnliches Anliegen; für Schilf dennoch überraschend. Julia ist zehn Jahre älter als Rita Skura, steht aber aus seiner Sicht genau wie diese eindeutig auf der anderen Seite des Trennstrichs zwischen jung und alt. Sie gehört zu einer neuen Generation, deren Mitglieder sich nicht Menschen,
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