Schillerhoehe
Kommissar?«
Rieker lachte. »Ja, da mögen Sie recht haben – und es wäre ja nicht schlecht, wenn viele gute Ideen dazu führen, dass der Täter bald gefasst wird.«
»Sehen Sie«, meinte Besold. »Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es am besten unserem guten Herrn Struve, der ist zuständig und müsste eigentlich bald wieder hier eintreffen.«
»Okay«, meinte Rieker, der es sich leisten konnte, noch einige Minuten zu warten. Er würde die Zeit nutzen, um etwas über Tell in Erfahrung zu bringen. »Ich bleibe auf jeden Fall so lange, bis Herr Struve kommt«, versicherte er. »Da ich auch Vorstandsmit glied der Deutschen Schillergesellschaft bin, ist es für mich sehr wichtig, über den Stand der Ermittlungen informiert zu sein.«
Rieker ging in den hinteren Bereich der Handschrif tenabteilung. Er wollte wissen, wo die Handschrift des Stückes Wilhelm Tell gelagert wurde. In einem abge legenen Winkel der Bibliothek setzte er sich an einen Computer und machte die Signatur ausfindig. Da er sich privat hin und wieder mal ein Buch auslieh, wurde er schnell fündig. Er stand auf und passierte die Ausleihstelle. Beiläufig blickte er in eine Glasvitrine und sah auf ein dort ausgestelltes vergilbtes Handschriften fragment. Er traute seinen Augen nicht, als er las:
WILHELM TELL, ORIGINAL DES JAHRES 1804, ERSTER AUFZUG
Er blickte sich um. Niemand war zu sehen. Die Bib liothek schien samstags nicht besetzt zu sein. Rieker erinnerte sich an einen Zeitungsbericht. Das Museum plante eine große Sonderausstellung zu Schillers Dra men. Das konnte die Erklärung dafür sein, warum aus gerechnet das von ihm Verlangte so schnell zu finden war. Als Vorstandsmitglied der Deutschen Schillerge sellschaft verfügte er über einen Generalschlüssel – wie auch die Kuratoren, Abteilungsleiter und die Leiten den Bibliothekare. Der Verdacht würde bestimmt nicht auf einen Bürgermeister fallen. Trotzdem: Die günstige Gelegenheit könnte sich auch als Falle entpuppen. Aber wer könnte sie ihm stellen? Der Mörder von Dietmar Scharf? Es kam ihm eigenartig vor, dass der Erpresser ein TellFragment von ihm verlangte und er soeben das Ergebnis eines Mordes im Stile Tells gesehen hatte. Er hielt es für möglich, beide Verbrechen so zu pla nen, dass sie ineinander übergingen und funktionierten. Der Mörder musste damit rechnen, dass er zur Polizei gehen würde. Auch dies zog Rieker in Erwägung. Er kam zu dem Schluss, dass der Mörder die Erpressung wahrscheinlich nur benutzte, um seine wahren Motive zu verschleiern. Freilich wusste Rieker darüber ebenso wenig wie die Polizei. Aber er war zu feige, die Erpres sung zuzugeben. Schließlich würde sein Verhältnis mit Gianna dann bekannt werden. Er beschloss, die Sache auszusitzen und vorerst mitzuspielen. Er könnte sich immer noch der Polizei stellen. Seine Familie durfte nicht auseinander brechen, er hatte einfach keine Lust darauf, alles zu verlieren: seine Frau, sein Haus, seine drei kleinen Töchter und seinen gut bezahlten Job.
»Mist!«, zischte er, und wieder meldeten sich Zwei fel.
Angenommen, der Erpresser war wirklich nur ein spleeniger Sammler. Vielleicht jemand aus dem Umfeld des Literaturarchivs, der zufällig wusste, dass die Hand schrift an diesem Wochenende auslag? Wie viel war sie überhaupt wert? Rieker hatte keine Ahnung. Aus den umliegenden Kellern drangen jetzt Stimmen. Er musste handeln. Vielleicht konnte er seinen Diebstahl nach her noch als Missverständnis darstellen, sollte er auf fliegen. Der Bürgermeister kam zu dem Schluss, dass er die Handschrift erst einmal sichern musste, um frei über sie verfügen zu können. Schnell steckte er sie ein. Mit dem Generalschlüssel konnte er das Dokument notfalls am Sonntagabend wieder zurückbringen. So hatte er Zeit gewonnen. Zufrieden mit der Beute verließ Norbert Rieker die Keller des Literaturarchivs durch einen Nebenausgang.
7
In der Drogerie Müller stand Julia ungeduldig in der Schlange. Es war am Samstag immer das Gleiche. Vor der Kasse trafen sich vor allem Rentner. Hatten die denn in der Woche keine Zeit zum Einkaufen? Gelang weilt schweifte ihr Blick nach draußen. Auf einmal spürte sie eine Hand auf der Schulter. Sie drehte sich um. Ralf stand vor ihr.
»Hey!«
»Hey!«
Ralf beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf beide Wangen. Sie erwiderte die Zärtlichkeit, fühlte sich aber etwas überrumpelt. Immerhin benutzte er gut
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