Schillerhoehe
ihrer LandWG in Winzerhausen ein. Immer noch frustriert, warf sie den Helm achtlos in die Ecke des Flurs. Sie betrat die geräumige Küche, die meistens Katja sauber hielt. Auch an diesem Tag hatten sich kein Löffel oder Teller auf einen der Küchenschränke ver irrt. Gut, dass es Katja gibt, dachte Melanie. Sie selbst hielt ungern Ordnung. In den aufgewühlten Meeren, in denen sie sich bewegte, war sie auf einen heimatli chen Hafen angewiesen. Ihre Lebensgefährtin, die für die Umweltstiftung Naturhorizont arbeitete, hatte sie nicht lange überreden müssen, mit ihr in das traumhaft gelegene Kleinod am westlichen Rand des Bottwartals zu ziehen. Sie schätzte die ruhige Art ihrer Freundin. Gemeinsam verbrachten sie einen Großteil ihrer Frei zeit im Garten. Von dort hatten sie einen herrlichen Blick auf das liebliche Tal.
Melanie fühlte sich leer. Katja war noch nicht wieder aus Ludwigsburg zurück. Bestimmt hatte sie mit ihrer BMW noch eine Runde in den Löwensteiner Bergen gedreht und sich den AnnaSee angeschaut. Melanie schnitt Maultaschen in Streifen und briet sie mit zwei Eiern in der Pfanne. Sie brauchte jetzt eine Stärkung, und zwar etwas handfest Schwäbisches, das ihr Ner venkostüm in Form brachte. Sie erinnerte sich an die Momente, als sie nach anstrengenden Nachtschichten bei der Schutzpolizei im oberschwäbischen Biberach nach Hause kam. Damals briet sie sich meistens ein Spiegelei und schaute sich im Fernsehen noch irgend welche alten Serien wie ›Die Straßen von Ostrauder fehn‹ an.
In der Winzerhäuser Wohngemeinschaft beschlossen die beiden Frauen, ohne Fernsehen zu leben. Es lohnte sich nicht. Darin waren sie sich einig. Melanie hätte jetzt liebend gerne etwas zur Entspannung gehabt. Sie fragte sich, was sie sich anschauen würde. Vermutlich eine der belanglosen Familienserien wie ›Unsere kleine Finca‹ oder ›Die Bullen vom Starnberger See‹. Sie blätterte ziellos im Fernsehteil des Marbacher Kurier. Im über regionalen Teil las sie einen Artikel über den Schießbe fehl an der damaligen DDRGrenze. Auch Frauen und Kinder durften getötet werden. Das hatten Forscher in alten Unterlagen der Stasi recherchiert. Nachdenklich legte sie die Zeitung zur Seite. Sie kratzte den letzen Rest Ei von ihrem Teller. Sie würde morgen Littmann anrufen und ihn um Versetzung bitten. Melanie kam sich vor wie eine Versagerin – unfähig, ihr Kollegenver hältnis professionell zu gestalten. Da hörte Katja kom men, die sich gleich darauf zu ihr gesellte.
»Na du!«, rief sie zärtlich und strich Melanie durchs Haar.
»Hi.«
»Du siehst irgendwie aus, als ob du mies drauf wärst.«
»Wie man sich so fühlt, wenn man mit einem Kolle gen, den man nicht mag, einen Mord aufklären soll.«
»Na super«, bemerkte Katja. »Hast du Lust, mir die ganze Sache bei einem Glas Muskattrollinger zu erzäh len?«
Die beiden Freundinnen spazierten zur Höhengast stätte am Wunnenstein. Sie kamen gerade noch rechtzei tig, um dort oben einen malerischen Sonnenuntergang zu erleben. Spätabends und nicht mehr ganz nüchtern kehrten sie in ihr Haus zurück.
Gut, dass es Katja gibt, war der letzte Gedanke, bevor Melanie in einen tiefen Schlaf fiel.
In Marbach war Utz Selldorf um diese Zeit noch wach. Der Literaturagent saß in der Wunderbar, einem Lokal in der Grabenstraße, das ihm SchillerLiebha ber bei einem Symposium in Weimar vor zwei Jah ren als ›immer gut für einen Absacker‹ empfohlen hat ten. Er hatte sich am Bahnhofskiosk das Börsenma gazin gekauft und betrachtete wie jeden Abend die Entwicklung der Aktienkurse. Der Immobilienmarkt in Russland gab nach, und er fürchtete, dass seine – zugegeben etwas windigen – Ostinvestitionen kippen könnten. Er nahm einen kräftigen Schluck Bourbon. Zu dumm, dass es in Marbach in den Sommerferien kaum kulturelle Veranstaltungen gab, bei denen er sich ablenken konnte. Immerhin zeigte ein Kino alte Strei fen. Nach den Turbulenzen um den Mord an Dietmar Scharf wollte er nicht mehr groß ins Nachtleben ein tauchen. Er beschloss, an diesem Abend in Marbach zu bleiben – zumal es in der Stadt für ihn noch etwas zu erledigen gab.
Er musste auch nach dem Tod von Dietmar Scharf konsequent sein Ziel verfolgen, überlegte er. Und das bestand darin, den Nachlass von Erika Scharf einem der beiden konkurrierenden Institute zuzuführen. Mit dem Honorar würde er sich einen anderen Wagen
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