Schillerhoehe
blankes Entsetzen. Noch nie war ein Parteitag im Beisein der Presse von einem der art peinlichen Auftritt beherrscht worden. Scheinbar beschwichtigend trat Kurt Wiedenhopf ans Mikrofon und blickte den neben ihm stehenden Rieker grimmig an. Dann wechselte er blitzartig seinen Gesichtsaus druck und lächelte aufgesetzt ins Plenum.
»Hanoi, so goats aber itte, lieber Parteifreund Nor bert Rieker. Wir kennen und schätzen dich und deinen Sachverstand, aber wir sind hier, um politisch sauber zu argumentieren. Ich glaube, ich spreche für viele der Anwesenden, wenn ich dir sage, dass du unseren Abge ordneten Steinhorst unter der Gürtellinie angegriffen hast. Wir erwarten eine Entschuldigung von dir.« Wie denhopf nahm das Mikrofon vom Pult, hielt es Rieker unter die Nase, umklammerte es dabei aber fest, damit es der Bürgermeister nicht an sich reißen und schon wieder eine minutenlange Rede zweifelhaften Inhalts halten konnte.
Norbert Rieker dachte überhaupt nicht daran, sich zu entschuldigen, und stand auf.
»Tut mir leid, liebes Wiedenhöpflein, du bist echt auf dem falschen Dampfer: aber ehrlich gesagt wusste ich, dass du so reagieren würdest: Du bist ja vor zehn Jahren selbst nur dadurch Kreisvorsitzender gewor den, dass unser Steinhörschtle dich mehr oder weni ger im Alleingang auf den Posten gehievt hat.« Rieker schnappte sich das Mikrofon, drängte Wiedenhopf mit dem Ellbogen ab und richtete sich an die Abgeordneten »Verehrte Delegierte, ich erinnere daran, der Vorstand hat sich damals im Vorfeld auf nur einen einzigen Kan didaten verständigt, obwohl die Satzung unseres Krei ses vorschreibt, mindestens unter zwei Bewerbern aus zuwählen. Wo war euer kritisches Potenzial? Ihr seid mehr als nur Stimmvieh. Ich stelle diesen Punkt zur Diskussion. Außerdem beantrage ich die Einführung eines Frauenquorums für den Kreisvorstand.«
Die Worte des Marbacher Bürgermeisters waren für die Delegierten schwer verdaulich. Einige von ihnen riefen kräftige Ausdrücke durch den Saal. ›Buh‹, ›Revo luzzer‹ und ›Geh doch zu den Orangefarbenen‹ waren noch die harmloseren. Die allgemeine Aufregung gip felte im Chor ›Rieker raus, Rieker raus, Rieker raus‹. Nur die wenigen Frauen in der Gemeindehalle hiel ten sich zurück.
Der Bürgermeister ließ sich aber nicht entmutigen. Er schnappte sich erneut das Mikrofon und skandierte trotzig: »Steinhorst raus, Steinhorst raus, Steinhorst raus.« Tatsächlich schloss sich eine kleine Schar der Jun gen FPU seinen Rufen an. Wiedenhopf versuchte, ihm das Mikrofon zu entreißen, auch der geschmähte Bun destagsabgeordnete trat nach vorne, um Rieker vom Podium zu drängen. Der Bürgermeister ließ sich das aber nicht gefallen. Mit einem linken Aufwärtshaken traf er das Kinn von Steinhorst, der benommen tau melte und mit einem lauten Krachen rückwärts von der Bühne flog. Er lag zunächst regungslos da, kam aber wenige Sekunden später wieder zu sich. Weitere Delegierte stürmten nach vorne. Gemeinsam hielten sie Rieker fest, der immer noch das Mikrofon in der Hand hielt und mit letzter Kraft hineinschrie: »Man muss auch unbequeme Wahrheiten ertragen können, liebe Parteifreunde!«
»Ruf doch endlich einer die Polizei!«, schrie ein völ lig aufgelöster Wiedenhopf. Wenig später trafen tat sächlich Beamte des Marbacher Polizeireviers ein und nahmen den sichtlich mitgenommenen Bürgermeister in Gewahrsam. Helfer des Roten Kreuzes versorgten den benommenen Steinhorst.
Auf dem Marbacher Revier trauten die Polizisten ihren Augen nicht. Das war ihr Stadtoberhaupt, den sie auf allen Festen als souveränen Redner erlebt hatten? Sie glaubten an einen schlechten Scherz, als er vorgeführt wurde. Norbert Rieker wiederum machte einen völ lig gefassten Eindruck, abgesehen davon, dass er nach Schweiß und Alkohol roch. Er verlangte nach seinem Anwalt, und nach zwei langweiligen Stunden in der Ausnüchterungszelle durfte er gehen. Es war jetzt
23 Uhr, und er fühlte sich elend. Natürlich hätte er Steinhorst nicht schlagen dürfen. Vermutlich würde Zorn ihn in die Pfanne hauen, und auch sonst hatte er in Marbach und der FPU nicht mehr viel verloren, wenn Steinhorst ihn verklagen würde. Es waren jetzt noch zwölf Monate bis zur nächsten Bürgermeister wahl. Der Krieg war verloren, egal, welche Schlacht er jetzt noch anzetteln würde. Vielleicht musste er ganz von vorne anfangen, die Finger von der Politik
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