Schillerhoehe
mal. Aber was hatte er damals schon machen können? Er war jung und unerfahren gewesen, linientreu – und außerdem leicht einzuschüchtern. Seine Vorgesetzten gaben sich als ›harte Hunde‹, ihnen gegenüber wollte er nicht den Eindruck erwecken, als ob er den Dienst dort nicht bewältigen konnte. Er war froh gewesen, als er nach den Einsätzen mit Todesschüssen endlich ver setzt wurde. Wahrscheinlich hatte die Stasi ihm wegen seiner Treffsicherheit den Sprung in den Offiziers kader des Geheimdienstes ermöglicht. Wie es in ihm aussah, interessierte niemanden. Am Ende auch ihn selbst nicht mehr. Er flüchtete sich in Zynismus und heulte mit den Wölfen, viele Jahre lang. Entschlossen blickte Schäufele jetzt wieder auf die Fotografie von Kurt. Sein Neffe war acht Jahre alt gewesen, als er an der inner deutschen Grenze erschossen wurde. Er konnte sich noch gut an die Nacht vor 35 Jahren erinnern. Es war neblig damals bei Marienborn. Kaum was zu sehen. Irgendwann schlug der Hund an. Manchmal verirrten sich Rehe in den Grenzanlagen. Wenn die Tiere auf die Minen traten, blieb wenig von ihnen übrig. Furchtbare Anblicke. Schäufele hatte auch Menschen gesehen, die auf diese Weise ums Leben gekommen waren. Bilder, die ihn verfolgten. Abgetrennte Arme, blutüberströmte Körper, gellende Schreie. Manchmal wachte er nachts schweißgebadet auf und schrie selbst. Ja, und dann sah er damals in dieser Novembernacht im Nebel diese drei Gestalten. Vom Turm erfasste ein Scheinwerferstrahl die Gruppe. Er hatte gerufen: ›Halt, oder ich schieße!‹ Wären sie doch stehen geblieben. Aber sie rannten wei ter. Weiter in ihr Verderben. Dann der Warnschuss. Und schließlich …
Schäufele stand in der Küche. Er nahm noch einen Schluck Cognac und blickte in das Buch. Es war ihm in all den Jahren zum Wegbegleiter geworden. Denn hier wurde abgerechnet. Hier bewährte sich der Glaube an den langen Atem der Gerechtigkeit. Fast immer stieß Schäufele in Schillers Werken auf einen Satz, in dem er sich wiederfand. »Von Tell soll keiner ungetröstet scheiden, was ich vermag, das will ich tun« , las er laut und verspürte Entschlossenheit. Mit einigem Unbeha gen las er dagegen weiter: »Hier könnt Ihr unentdeckt nicht bleiben, könnt entdeckt auf Schutz nicht rech nen – wo gedenkt Ihr hin? Wo hofft Ihr Ruh zu fin den?« Schäufele kannte die Antwort auf diese Fragen, denn er hatte sie dem Hauptschuldigen schon gege ben. Aber er spürte jetzt, es könnte für ihn eng wer den. Er nahm seinen Revolver und steckte ihn mit dem Schalldämpfer ein. Es war jetzt 15 Uhr, und er konnte sich noch ein wenig auf dem Fest umsehen, bevor sein Dienst dort begann. Er musste auf der Hut sein. Lebend sollten sie ihn nicht bekommen.
Nur eine Kerze brannte in dem abgedunkelten Zim mer. Gianna trug lediglich ein Badetuch, das sie sich um ihre schlanken Hüften gewickelt hatte. Nur ein klei ner Knoten hielt das provisorische Konstrukt vor ihren drallen Brüsten zusammen. Rieker lüftete mit einem sanften Ruck das Geheimnis. Nackt standen die beiden vor dem großen Wandspiegel, hinter dem ein schmaler Durchgang den Weg zur Spielwiese mit dem großzügig bemessenen Leopardenfell aus Polyester ermöglichte.
»Komm, mein starker Löwe!«, maunzte Gianna, die sich wenig später genüsslich auf dem Tierfellimi tat rekelte.
Rieker ließ sich nicht weiter bitten. Er umfasste ihre Brüste und rieb seinen Dreitagebart an ihren Schenkeln, die sie aufreizend auf und ab bewegte. Lüstern gab er sich dem Liebesspiel hin, ohne tiefere Gefühle, ohne Moral und gänzlich ohne Versprechun gen. Du liebst sie nicht, dachte er, vielleicht fühlte es sich gerade deshalb so frei an. Ihm wäre sogar egal gewesen, wenn jetzt erneut eine Kamera liefe. Wer weiß, ob seine Karriere, seine Ehe und überhaupt seine bürgerliche Existenz nicht sowieso schon im Eimer waren. Endlose Leere beseelte ihn – er fühlte sich, als ob er in die Tiefe eines ewigen lichtlosen Brunnen schachts fiele. Vielleicht hätte Gianna ihn mit erfül lendem Sex wenigstens an diesem Abend auffangen können, aber ihr Liebesspiel blieb genauso unbeseelt wie sein Lebensgefühl. Und Gianna? Sie wusste nicht, auf welche Karte sie setzen sollte. Einmal mehr mit Rieker im Bett kostete sie wenig Überwindung. Sie sah das Ende ihrer Liebelei kommen, aber vielleicht wollte sie es sich noch nicht eingestehen. Ihr Beischlaf wirkte auf sie beziehungslos, kein zärtliches Mitein
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