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Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schaewen
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hauen. Deshalb haben wir nicht weitergebohrt, wenn er dann sagte, das sei alles Schnee von gestern.«
      Luca Santos bekam in dem Gespräch nichts ande­ res zu hören. Franz Schäufele, geborener Tietze, hatte es offenbar verstanden, an anderer Stätte mühelos eine neue Identität aufzubauen. Warum er eine Aura der Geschichtslosigkeit um seine Person schuf, blieb unklar. Santos merkte, wie ihm die Zeit davonlief. Er war sich fast sicher, dass Schäufele etwas mit den Mor­ den zu tun hatte. Er fragte sich, was in dem Geräte­ schuppen in Affalterbach versteckt war. Er wollte dort ein bisschen herumschnüffeln. Der Tag der offenen Tür bot einen gewissen Schutz. Notfalls konnte er sagen, dass jemand ihm den Tipp gegeben hatte, für einen Zei­ tungsbericht mal hinter die Kulissen zu blicken. Irgend­ eine Ausrede würde ihm schon einfallen. Santos verab­ schiedete sich von den beiden Männern, stieg in seinen Wagen und fuhr los.

    Zur selben Zeit saß Franz Schäufele allein in seiner Wohnung. Er schaute mit ernster Miene aus dem Fens­ ter. Sein Blick fiel auf ein Schwarz­Weiß­Foto, das er auf dem Fenstersims in der Küche aufgestellt hatte. Er nahm das Bild in die Hand und betrachtete das abge­ lichtete Kindergesicht lange.
      »Mensch, mein Kleiner, Kurt, was hätte aus dir noch alles werden können«, murmelte er, senkte traurig sei­ nen Kopf und schlug mit der Faust wütend auf den Tisch. Hart und ungebremst. Aber das würde seinen Neffen auch nicht wieder lebendig machen. Schäufele schluchzte und sank in sich zusammen. Traurig stellte er das Bild an seinen Platz zurück, nahm ein Taschen­ tuch und schnäuzte hinein.
      »Verdammter Mist!«, fluchte er mit fester Stimme. Dann holte er aus einer Schublade einen Revolver und spielte mit ihm. Schäufele legte drei Patronen hinein und drehte an der Trommel, wie beim russischen Rou­ lette. Er drückte jedoch nicht ab, sondern öffnete jedes Mal die Trommel. Immer lugte eine Patrone hervor und fiel aus dem Magazin – drei Mal in Folge. Schließlich legte er den Revolver weg. Er lächelte selbstzufrieden und blickte zu dem Kinderbild.
      »Es wird alles gut, Kurt, hab keine Angst, ich mach das schon für dich.«
      Schäufele zog ein Buch aus einem Regal. Es war Wilhelm Tell. Ein listiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Laut las er Passagen vor, bei denen es um den Tyrannenmord ging.
       »Vater, hier ist der Apfel, wusst ichs ja, Du würdest deinen Knaben nicht verletzen.« Schäufele nahm einen Schluck Cognac aus einem Flachmann und blätterte weiter. Er stellte sich wieder ans Fenster und rief:
      » So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen: Mit diesem zweiten Pfeil durchschoss ich – Euch. Wenn ich mein liebstes Kind getroffen hätte. Und Eurer – wahr lich hätt' ich nicht gefehlt.«
      Wieder nahm Schäufele einen kräftigen Schluck. Seine Augen glänzten, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Wütend schlug er jetzt gegen den Türrahmen. Drei Mal, vier Mal, bis das Holz knackte und er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die gerötete Hand hielt.
      Dann schaute er auf die Armbanduhr. Es war Zeit, zum Fest des Schützenvereins in Affalterbach zu fah­ ren. Er hatte die Schicht von 17 bis 24 Uhr am Zapf­ hahn des Bierzeltes übernommen. Er fühlte sich nicht allzu wohl, eigentlich wollte er lieber allein sein, aber er musste dort erscheinen, weil er dem Vorsitzenden sein Wort gegeben hatte.
      Franz Schäufele fragte sich, ob er den Revolver mit­ nehmen sollte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, man könnte hinter ihm her sein. Der junge Reporter gestern hatte sich in der Nähe des Geräteschuppens herumge­ trieben. Er fragte sich, ob er ihm nachgestellt hatte oder ob es ein Zufall gewesen war. Schäufele ging seit sei­ ner Ausbildung beim Staatssicherheitsdienst der DDR immer vom schlechtesten Fall aus und er war damit bis­ her gut gefahren. Sicher, er hatte über Leichen gehen müssen, damals, vor allem an der Grenze. Als er unter Druck stand und schießen musste, was einige Male vorgekommen war. Warum mussten sich auch so viele Flüchtlinge seinen Streckenabschnitt aussuchen? War es die abschüssige Lage, lag es am nahen Wald oder an der Tatsache, dass ein westdeutsches Dorf in Sichtweite lag und die Flüchtlinge Angst hatten, die DDR­Soldaten würden ihnen an einer weniger bevölkerten Stelle über die Grenze nachsetzen? Wahrscheinlich spielten diese Gründe alle eine Rolle. Und er hatte geschossen. Jedes­

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