Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
orientierungslos im Straßengraben? Ich runzelte die Stirn, und mein Blick fiel auf Anna. Ihre nachdenklichen Augen ruhten fragend auf mir. Ich überlegte, was sie wohl jetzt wieder in meinem Antlitz zu erkennen glaubte.
*
Anna wartete im Schlafgemach auf ihren Gatten. Sie stand vor einem großen Spiegel und kämmte bedächtig ihr langes, dunkles Haar. Sie hielt inne und legte eine Hand auf ihren Bauch. Bald wird man es sehen, dachte sie. Sie würde sich nicht verstecken, denn sie hielt nichts davon, dass schwangere Frauen sich bis zur Niederkunft kaum in der Öffentlichkeit zeigten. Die Aussicht, Mutter zu werden, erfüllte sie mit Stolz, und sie hoffte auf einen Sohn.
Friedrich wünschte sich einen Erben, und sie wünschte sich nichts mehr, als ihm einen zu schenken. Aber sie war zart gebaut und hatte daher ein bisschen Angst. Auch heute noch starben viele Kinder im ersten Lebensjahr, obwohl sich Ärzte und Hebammen alle Mühe gaben.
Morgen würde sie es den Fremden erzählen. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, ihnen vertrauen zu können. Nach so kurzer Zeit, schalt sie sich selber. Sie konnte nichts dafür, und es beschlich sie ein merkwürdiges Empfinden, wenn sie an die Frauen dachte.
Sie spürte einerseits eine Verbundenheit, aber zugleich stimmte auch etwas nicht. Besonders bei Isabel war es ihr aufgefallen. Immer wenn sie Isabel ansah, durchlief sie ein merkwürdiger Schauer. Sie konnte es sich nicht erklären, es war, als habe sie eine Schwester gefunden. Eine innere Stimme hatte ihr eingegeben, die Fremden völlig bar jeder Vernunft mitzunehmen. Anna verließ sich gern auf ihre innere Stimme, denn damit hatte sie am Ende immer recht behalten. Leise und ganz tief im Innern nahm sie das feine Flüstern wahr. Diesmal hatte die Stimme geradezu geschrien, und sie hätte gar nichts anders tun können als zu gehorchen.
Von der Geschichte, die sie ihr erzählt hatten, glaubte sie nicht ein Wort. Sie hatten sich so seltsam verhalten, hatten alltägliche Dinge wie Wunder bestaunt. Oft flüsterten sie miteinander, und wenn Anna das Zimmer betrat, verstummten sie verlegen. Ihre Ausdrucksweise konnte man gut und gerne als lässig bezeichnen, manchmal auch als ungebührlich. Doch das amüsierte Anna. Manchmal kannten sie die richtigen Worte für Dinge nicht, aber es schien ihnen nicht peinlich zu sein.
Sie hatten keine Scheu, ihre Gedanken auszusprechen, was Anna sehr imponierte, war sie doch nach dem Tod ihrer Eltern klösterlich zu Korrektheit, Höflichkeit und vornehmer Zurückhaltung erzogen worden.
Und dann die Sache mit der Kleidung. Lisa hatte sie gewaschen und in Annas Zimmer gelegt. Sie hatte sie genau betrachtet. Beim Waschen waren leider nicht alle grünen Flecke herausgegangen. Es handelte sich auf keinen Fall um alltägliche Unterhemden. Vorhin beim Essen war ihr plötzlich aufgefallen, dass der im Wald aufgegriffene Mann ein ähnliches Hemd trug. Auch schien der Stoff seiner Hosen derselbe zu sein wie die ungebührlich kurzen Hosen der Frauen. Hosen! Welche Frau trug Hosen?
Der Mann namens Jack benahm sich ebenso merkwürdig. Also war er ursprünglich mit ihnen unterwegs gewesen, davon war sie überzeugt, schließlich war sie nicht dumm, doch sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Es störte sie, dass die Frauen ihn nicht von Anfang an erwähnt hatten, sie hätten sich doch um seinen Verbleib sorgen müssen. Und weshalb gab er vor, sich an nichts erinnern zu können? Sie verfügte über genügend medizinische Kenntnisse, um zu bemerken, dass außer seinem Bein nichts an ihm Schaden genommen hatte.
An dieser Stelle drehten sich ihre Gedanken stets im Kreis, und sie beschloss daher, die Angelegenheit bis auf weiteres auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen erinnerte sie sich erneut an die seltsame Kleidung ihrer Gäste. Die Unterwäsche war selbst für französische Verhältnisse schamlos winzig und aus einem seltsamen weichen Stoff gefertigt. Eine davon hatte ein winziges Blümchenmuster, aber sie konnte keine Stickereifäden mit den Fingern ertasten. Wie konnte man ein solch filigranes Muster durch Färben oder Batiken erzeugen? Eines der Hemdchen, anders konnte sie diese Art der Oberbekleidung nicht benennen, war mit einem spaßigen Bild versehen, das eine lachende Sonne darstellte, sowie einen zunächst unlesbaren Text. Die Methode, Buchstaben auf Stoffe zu drucken, war ihr unbekannt, und sie dachte lange darüber nach, wie es wohl funktionierte. Am sonderbarsten war ihr jedoch die
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