Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
an, edle Dame. Ich halte schon etwas aus ...“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da schickte Anette ihn auch schon mit ein paar blitzschnellen Handgriffen aufs Parkett. Seine Frau hielt sich mit einem Ausruf des Entsetzens die Hand vor den Mund und eilte sofort zu Hilfe. Doch er winkte ab, war mit einem Satz wieder auf den Beinen, trat vor Anette und reichte ihr die Hand.
„Meine Dame, Ihr habt meinen größten Respekt.“
Er verbeugte sich leicht, hauchte einen Handkuss, und Anette errötete.
„Darf ich fragen, wo Ihr diese Kunst erlerntet?“
„Bei meinem Onkel, Isabels Vater“, fügte sie hinzu. „Er legte stets Wert darauf, dass die Frauen seiner Familie gefährlichen Situationen nicht hilflos ausgeliefert sind.“
„Das ist sehr umsichtig von ihm. Sollte Gott mir eine Tochter schenken, werde ich sie von Euch unterrichten lassen, aber vielleicht könnte ein Sohn auch etwas von Euch lernen.“
Er zwinkerte und verließ den Raum, um sich im Schreibzimmer wieder seinen Abrechnungen zu widmen. Wir waren uns einig, dass dies zu dieser Zeit ein sehr großes Kompliment an eine Frau war. Die Söhne wurden nämlich nur von den besten Lehrern unterrichtet. Friedrich wurde mir immer sympathischer.
Alles richtete sich zum Schlafengehen, und ich ergriff die Gelegenheit, mit Anna zu sprechen.
„Wir haben eine Bitte. Unser Cousin Jack fühlt sich im Hospital sehr unwohl und allein. Dürfen wir ihn zu uns holen?“
„Natürlich.“ Ihrer Stimme war weder Zögern noch Überraschung anzumerken. „Ich wusste, Ihr würdet fragen. Wir werden uns morgen um einen Schlafplatz für ihn kümmern. Die Zimmer sind leider alle belegt. Er liegt Euch wohl sehr am Herzen, Euer Cousin?“, fragte sie verschwörerisch.
„Sieht man das so deutlich?“
Ich beschäftigte mich andächtig mit den Rüschen an meinem Ärmel. Zu dieser Zeit waren Verhältnisse zwischen Cousin und Kusine nichts Ungewöhnliches, fiel mir ein. Und doch war mir peinlich, dass man mir etwas anmerkte, was ich eigentlich gar nicht empfinden wollte.
„Ich sah es in Euren Augen“, sagte sie und ging langsam vor mir die Treppe hinauf.
Schon wieder, dachte ich und überlegte, ob es nicht klüger sei, in ihrer Gegenwart eine Sonnenbrille zu tragen.
Um acht Uhr morgens wurden wir durch Lisas Klopfen geweckt. Das fahle Morgenlicht drang schwach durch die beiden kleinen Fenster des Schlafzimmers. Ich räkelte mich und fühlte mich auf einmal glücklich. Es war schön hier, und es drohte keine Gefahr. Meine Freundinnen und ich hatten tagelang schon nicht mehr richtig gelacht. Ich beschloss, dies zu ändern. Von heute an wollte ich mein Schicksal mit mehr Elan und mehr Humor selbst in die Hand nehmen. Laut rief ich in den Raum:
„Hier ist der Hessische Rundfunk 1790. Es liegen folgende Verkehrsmeldungen vor: Römerplatz, zehn Meter Stau durch einen umgefallenen Dungwagen. Wir bitten, die Unfallstelle weiträumig zu umlaufen und aus gesundheitlichen Gründen den Atem anzuhalten.“
Anette, die mit mir in einem Bett schlief, rollte sich in ihre Decke ein und drehte sich zur Wand. Barbara ließ ihre Beine aus dem Bett hängen und streckte sich gähnend. Das blonde Haar hing zerzaust in ihrem Gesicht, und sie blickte mich mit nur einem geöffneten Auge an.
„Da du mich nun schon mit deinen überaus originellen Verkehrsnachrichten geweckt hast, kann ich auch gleich ins Hospital gehen und mit dem Doktor reden. Du kommst doch sicher mit?“, fragte sie, wobei es mehr wie eine Feststellung klang.
„Okay. Wir müssen sowieso Jacks Transport klären“, fiel mir ein, froh, eine Ausrede gefunden zu haben. Die unbändige Freude, ihn heute wieder zu sehen, konnte ich selbst nicht verstehen. Karin brummte etwas Unverständliches, setzte sich mühsam auf, rieb sich die Augen und erhob sich schwerfällig.
„Was für eine unchristliche Zeit“, murmelte sie und machte sich mit mir auf den Weg zum Abort, der sich im Hinterhof befand.
In Ermangelung eines Morgenmantels hatten wir uns zur Bedeckung unserer Blöße Decken umgeworfen. Im Hinterhof war es zu dieser morgendlichen Stunde noch kühl. Karin sah mich düster an.
„Hier muss es im Winter echt heimelig sein“, sagte sie mit Blick auf den Abort.
Ich wartete, bis sie wieder herauskam, und ging dann voller Abscheu hinein. Es stank erbärmlich, und ich hielt panisch Ausschau nach Spinnen. Daran würde ich mich wohl nie gewöhnen, obwohl es mir im Vergleich zum Gefängnis geradezu luxuriös erschien. Vor
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