Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
wir die Treppe hinuntergingen, sahen wir den alten Kutscher Georg bereits auf uns warten.
Gemächlich schwankend rollte die Kutsche über die uneben gepflasterten Straßen. Ich schaute aus dem Fenster und wunderte mich über die Stille und Einsamkeit an dem Ort, den ich nur als lärmende Großstadt kannte. Barbaras Stimme unterbrach das Idyll.
„Anna ist schwanger.“
„Was?“, fragte Anette verblüfft. „Woher weißt du das?“
„Ich sehe es ihr an. Ist schließlich mein Beruf.“
Barbara zuckte mit den Schultern, als sei es normal, dass Hebammen hellseherische Fähigkeiten besaßen.
„Das ist ja toll, wir kriegen ein Baby“, rief Karin und sah im nächsten Moment erstaunt in unsere Gesichter.
„Was ist?“, wollte sie wissen.
„Wir kriegen ein Baby?“, fragte Barbara.
„Na ja, ich freue mich für Anna“, sagte Karin in einem Ton, als hätte man sie beim Stehlen erwischt.
Ich sprach meine seltsamen Gedanken aus.
„Ist euch schon mal aufgefallen, dass wir uns alle mit dieser Familie sonderbar eng verbunden fühlen?“
Anette pflichtete mir bei.
„Und sie mit uns. Außerdem kommt mir alles irgendwie bekannt vor, als hätte ich unsere Geschichte schon einmal geträumt. Das muss so etwas wie ein Hinweis sein, denke ich. Wahrscheinlich mussten wir hier landen. Jetzt brauchen wir nur noch den Grund dafür herauszufinden.“
Also ging es Anette genau wie mir. Auch sie hatte den Eindruck, als müsse alles so sein. Wie spannend! Der erste Hinweis war entdeckt, wie viele mussten wir wohl noch finden?
Den Rest des Weges schwiegen wir, jeder in seine Gedanken vertieft. Ich betrachtete die Stadt aus dem Fenster, und vor meinem geistigen Auge entstand das mir bekannte Stadtbild des 20. Jahrhunderts. Ich ließ hinter der Polizeistation, genannt die Hauptwache, ein großes gläsernes Versicherungsgebäude entstehen und musste lächeln, denn das sah wirklich grotesk aus. Mir gefiel die Stadt hier und jetzt viel besser, musste ich gestehen.
Die Kutsche stoppte, und ich schrak unsanft aus meinen Fantasien. Der Kutscher erklärte, dass auf dem Rückweg eine von uns bei ihm vorne Platz nehmen sollte, da die Kutsche für höchstens vier Personen geeignet sei. Karin bot sich spontan an, und Anette wollte ihren Platz ebenfalls Jack überlassen, damit er sein Bein ausstrecken konnte.
Wir wollten den Arzt nicht wieder überfordern, daher ging ich allein zu Jack.
Die Tür stand offen, und ich spähte ins Zimmer. Er lag Zeitung lesend in seinem Bett. Das heißt, er versuchte es. Mit gerunzelter Stirn bewegte er stumm die Lippen. Offensichtlich konnte er die altdeutsche verschnörkelte Schrift nicht entziffern. Er trug nun wieder seine eigene Kleidung. Als er mich bemerkte, erstrahlte sein Gesicht.
„Isabel, bitte sag mir, dass du kommst, um mich zu retten, sie wollen mich nämlich heute ins Armenhaus stecken!“
Als ich näher trat, warf er die Zeitung aufs Bett.
„Das kann kein Schwein lesen.“
„Ich schon“, sagte ich. „Ich kann es dir ja später vorlesen.“ Ich deutete auf seine Kleidung. „Du bist ja schon reisefertig.“
Sein Haar sah gewaschen aus, und er hatte es mit einem schwarzen Band zusammengebunden.
„Ja. Das kurze Hemd war eine Zumutung, zumal sie hier eine etwas zudringliche Schwester haben.“
„Eine was?“
Ich musste laut lachen bei der Vorstellung, wie das wohl ausgesehen haben mag.
„Ich fand das gar nicht zum Lachen“, sagte er, ließ sich aber von meiner Belustigung anstecken.
Er stützte sich mit der Hand auf das Bett, und mit der anderen griff er nach meinem Arm, den ich ihm hilfreich anbot. Er stellte sich auf sein linkes Bein und umarmte mich herzlich.
„Schön, dass du da bist“, raunte er in mein Ohr, was mir die Luft nahm.
Sein warmer Atem streifte meinen Hals, und ich bekam eine Gänsehaut. Ohne meinen Arm loszulassen, auf den er sich stützte, sah er mich an und strahlte vor Freude, endlich hier rauszukommen.
„Auf geht’s, ich bin fertig“, rief er munter.
Ich ließ ihn einen Moment allein sein Gleichgewicht halten und reichte ihm zwei Krücken, die an der Wand lehnten.
„Meinst du nicht, deine Kleidung ist etwas unpassend?“, fragte ich, und mein Blick wanderte über die zerrissenen Jeans und sein schmutziges T-Shirt.
„Na ja, ich sehe zwar nicht so sensationell aus wie du, aber ich habe leider nichts anderes.“
„Dafür ist gesorgt“, sagte ich und öffnete die Tasche, die Anna mir mitgegeben hatte.
„Anna, wir dürfen seit heute Du
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