Schimmer (German Edition)
ausstrecken und einen zaghaften, zitternden Finger auf das nach oben gedrehte Handgelenk des Mannes legen konnte, als wollte ich seinen Puls fühlen.
Ich durchforstete mein Innerstes und suchte nach diesem Etwas, dem Funken, dem mächtigen Sturm, der nur mein war – suchte nach der Quelle meiner Schimmerkraft und konzentrierte mich mit aller Macht darauf, den Mann aufzuwecken, der vor mir auf dem Boden lag.
Wach auf.
Wach auf.
Bitte. Wach auf.
Immer wieder dachte ich es in meinem Kopf, flüsterte es ganz leise wie einen Singsang. Ich dachte es fester, als ich je irgendetwas gedacht hatte. Ich konzentrierte mich so sehr, dass meine Augen anfingen zu tränen und meine Zähne wehtaten, so fest biss ich sie zusammen.
Meine Finger drückten immer stärker auf das kalte, knochige Handgelenk. Ich spürte das Blut langsam, fast zögernd unter seiner Haut pulsieren. Einen Augenblick lang geschah überhaupt nichts. Dann dröhnte eine schroffe, polternde Stimme durch meinen Kopf, die mich zurückfahren ließ, so dass ich auf dem Boden landete.
»Will nichts mehr sehen … nichts mehr fühlen. Lass mich aus dieser Welt gehen … Ich hab zu viel gesehen … zu viel!«
Die Stimme in meinem Kopf war erfüllt von dem Sog bodenloser Verzweiflung. Ich spürte den Schmerz und das Leid des bewusstlosen Mannes genau hinter meinen Augen, sie erschütterten mein Gehirn wie eine Granate.
»Zu viel gesehen! Lass mich in Ruhe …« Doch der Mann wachte nicht auf.
Ich konnte ihn nicht aufwecken.
Und da wusste ich – ganz genau und so sicher wie nur was –, da wusste ich, dass ich nichts tun konnte – nichts –, um Poppa zu helfen.
Es war ein Gefühl, als hätte mir jemand in den Magen geboxt und alle meine Knochen herausgezogen, so dass ich nur noch ein elender, nutzloser Klecks Wackelpudding war. Der Mann bewegte sich auf dem Boden, ohne aufzuwachen, und drehte die Hand, so dass das einfallslose Bild eines aufsteigenden Adlers sichtbar wurde, das vor vielen Jahren auf seinen Handrücken tätowiert worden war. Als ich die Qual und Verzweiflung der Stimme hörte, die in meinem Kopf schrie, flatterte der Adler, kreischte und schlug mit den Flügeln, als wäre er verrückt geworden, als wollte er nur ausbrechen und davonfliegen.
Da begriff ich, dass es Zufall gewesen war, nicht mein Schimmer, der Gypsy am Morgen geweckt hatte, und dass Samsons tote Schildkröte mir einen Streich gespielt hatte, sie war einfach nur so an meinem wichtigsten Tag aus dem Winterschlaf erwacht, ohne Rücksicht auf Schimmer, Hoffnungen und mögliche Missverständnisse. Die Natur hatte das ihre getan, und ich hatte es auf mich bezogen.
Zum ersten Mal, seit ich alt genug war, um zu wissen, was es bedeutet, einen Schimmer zu haben, zum ersten Mal, seit ich angefangen hatte von meinem eigenen Schimmer zu träumen, wäre ich lieber wie Poppa gewesen und hätte überhaupt keinen Schimmer gehabt. Keinen Schimmer, der mir Kummer bereitete. Keinen Schimmer, der mir erst Hoffnungen machte und mich dann nutzlos zurückließ.
18. Kapitel
»Komm, Mibs«, sagte Will ruhig, half mir auf und wischte mir den Dreck und die Steinchen von den Händen. »Wir gehen. Alle warten auf uns.« Er drehte mich von dem bewusstlosen Mann weg. Aber Will wusste nicht, was ich gehört hatte. Er wusste nicht, was ich gesehen hatte. Er konnte sich leichter abwenden als ich, er musste ja nicht zuhören. Ich war so schwach und wacklig auf den Beinen, dass es unvorstellbar schien wegzugehen. Doch als Will mich unbeholfen am Ellbogen fasste, ließ ich mich von ihm zum Lichtschein der Raststätte führen.
Die anderen warteten am Eingang. Lester hielt uns die Tür auf und wir gingen hinein. In der Raststätte war es rappelvoll, und ich musste die schmerzliche Erfahrung machen, dass Rocket voll danebengelegen hatte, als er sagte, Mädchen bekämen die stillen, freundlichen Schimmer. Lärm, Lärm, Lärm hatte ich bekommen; als ich die Raststätte betrat, war es das Gegenteil von still, und einige der Stimmen und Gedanken, die mir in den Ohren schrillten, waren alles andere als freundlich.
Als ich in die Raststätte voller tätowierter Biker und Trucker kam, war das, als hätte jemand in meinem Kopf Radio Gaga eingeschaltet – ein Radio mit Drehscheibe, das mit Zing und Pling von Sender zu Sender zu Sender zu Sender wechselt. Von der Begegnung mit dem Obdachlosen schwirrte mir immer noch der Kopf, und bei
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