Schimmer (German Edition)
Die Fernfahrer-Raststätte lag am anderen Ende der Stadt und leuchtete in schwachgrünem Neon. Grellweißes fluoreszierendes Licht drang durch die Eingangstür aus Glas und durchschnitt die Dunkelheit. Nicht weit von der Straße waren einige Motorräder geparkt, starke Maschinen. Der Parkplatz war voller Pickups, und auf einem weiteren Parkplatz hinter dem Gebäude standen Sattelanhänger wie Eisenbahnwaggons in Reihen nebeneinander. Lester musste den großen rosa Bibelbus hinter all den Lastwagen und Anhängern in einer finsteren kleinen Gasse parken, die mit stinkenden Müllcontainern, stapelweise zersplitterten Holzpaletten und alten, verrotteten Pappkartons übersät war.
»Ich hätte euch wohl l-lieber vorher rauslassen sollen«, sagte Lester entschuldigend und half Lill beim Aussteigen, als wäre sie eine Prinzessin.
»Bleibt schön zusammen, Kinder«, sagte Lill und schaute sich in der schwach beleuchteten Gasse um. Wir stiegen nach den beiden Erwachsenen aus dem Bus und liefen um Zeitungen und zerrissene Plastikfolie herum, die in der Abendbrise raschelten und flatterten. Ich konnte nicht sagen, ob die Brise eine gewöhnliche irdische Brise oder das Ergebnis von Fishs Sorge um Poppa war; seine Miene war undurchdringlich, während wir die verlassene Gasse entlanggingen.
Lill nahm Samsons Hand und er ging, ohne zu murren, zwischen ihr und Lester her, als täte er das jeden Tag. Ich wunderte mich, dass Samson auf einmal so schnell Zutrauen zu Fremden fasste. Doch sein angespannter Kiefer und seine steife Körperhaltung verrieten mir, dass auch er Angst hatte und Momma und Poppa vermisste und dass Lill und Lester in diesem Moment eben das Zweitbeste waren. Fish marschierte vorneweg, wie ein Pfandfinder, der guckte, ob der Weg auch sicher war; Bobbi stapfte hinterher und Will und ich bildeten das Schlusslicht.
Und da sah ich etwas, das mich vor Schreck zusammenfahren ließ. Ich blieb am Rand des Parkplatzes hinter der Raststätte stehen, wo die Gasse in die Straße mündete. Hinter einem widerlichen Müllcontainer, der von bergeweise überladenen Müllsäcken umgeben war, ragte unter einem Stapel alter Kleider eine schmutzige Hand hervor. Die Handfläche zeigte nach oben und die Finger waren wie hilfesuchend ausgestreckt.
Ich packte Will am Arm und riss ihn zurück, ich wagte kaum zu atmen. Die anderen gingen weiter und bemerkten weder die schmuddelige Hand noch Will und mich, die zurückgefallen waren und die Hand anstarrten, noch den Körper des Mannes, zu dem sie gehörte. Ich schaute Will an und er schaute mich an, seine Augen waren rund in dem gespenstischen Licht einer einsamen Straßenlaterne.
Als wir genauer hinsahen, erkannten wir die reglose Gestalt eines dreckigen, bärtigen Obdachlosen, er stank nach Trunksucht und Elend. Will versuchte mich wegzuziehen. Er machte eine Kopfbewegung zu den zahlreichen leeren Flaschen neben dem Mann auf dem Boden. »Wir können nichts für ihn tun, Mibs«, sagte er, bedauernd, doch entschieden wie ein Polizist, der Schaulustige von einer Unfallstelle wegschickt. »Komm, Mibs, wir gehen.« Wieder zog er mich sanft am Arm, aber ich wich nicht von der Stelle.
»Und wenn er tot ist?«, flüsterte ich. Mein Herz pochte. Wie ich den Mann da auf dem Weg liegen sah, musste ich an Poppa denken, der genauso still und leblos in Salina lag, und mein Herz war kurz vorm Zerspringen.
»Der Typ hat wahrscheinlich zu viel getrunken und das Bewusstsein verloren, Mibs«, sagte Will nervös; er wollte nicht länger bei dem Obdachlosen stehen bleiben, er wollte weitergehen zu den anderen. Doch ich hörte kaum noch hin, spürte kaum seine Hand auf meinem Arm. Ich sah nur den unglückseligen Mann. Ich konnte nur daran denken, dass ich vielleicht doch etwas für ihn tun konnte. Ich konnte ihn aufwecken. So wie ich Poppa aufwecken würde, wenn ich erst mal in Salina war. Keine dummen Stimmen mehr in meinem Kopf, mein richtiger Schimmer musste endlich einrasten, wie es gedacht war. Und zwar jetzt.
Ich machte einen Schritt auf den leblosen Fleischklumpen zu, der einmal ein umherwandernder, redender, hoffender, träumender Mann gewesen war – der einmal der Sohn oder der Freund von jemandem gewesen war … oder der Vater.
»Mibs!«, zischte Will und versuchte mich wegzuziehen, aber ich schüttelte ihn ab.
Ich kniete mich auf den Weg und spürte kaum die Steinchen, die sich in mein Knie drückten. Ich war jetzt nah genug, dass ich die Hand
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