Schischkin, Michail
die Rede?
Etwas an
diesem Haus kam dem Dolmetsch sonderbar vor, als er vor einem, nein, schon vor
anderthalb Jahren hier einzog. Er begriff nicht sogleich, was an dem riesigen
Gebäude anders war. Als Erstes fiel die hartnäckige Stille auf und dass keine
Kinderstimmen zu hören waren. Erst nach einer Weile kam ihm zu Bewusstsein,
dass es im Haus ausschließlich Einzimmerwohnungen gibt, in denen alte Leute
wohnen. Verwaschene Socken und Strümpfe in wandelnder Form sozusagen.
Der
Dolmetsch wohnt parterre, eine Tür geht auf den Rasen hinaus. Dort liegt
beständig etwas herum. Jetzt zum Beispiel, im tropfenschillernden Gras direkt
vor dem Fenster, eine nasse, ausgequetschte Colgate-Zahnpastatube.
Die
Nachbarn zu beiden Seiten sieht man nicht, doch zu hören sind sie. Der eine hat
einen Schlüsselbundanhänger, der auf Pfeifen reagiert, mit dem pfeift er sich
eins. Der rechte führt zwitschernde Selbstgespräche. Er ist nachtaktiv,
sommers wie winters in Unterhemd und langen Unterhosen. Einmal, als der
Dolmetsch gegen zwei Uhr morgens nach Hause kam, fegte sein Nachbar das
Trottoir.
Die
Zahnpastatube stammt aus dem sechsten Stock. Seit er hier wohnt, regnet es die
verschiedensten Dinge auf den Rasen vor seinem Fenster, und beileibe keinen
Müll. Einmal fiel ein Telefon herab, dann wieder komplette Bettwäschegarnituren,
ein Radioapparat, Lebensmittel, Schöpfkellen, Flaschenöffner, diverser Bürokram:
Notizblöcke, Schachteln mit Büroklammern, Briefumschläge. Nicht jeden Tag kommt
etwas geflogen, manchmal eine Woche gar nichts, und dann, aus heiterem Himmel,
eine Schere. Der Dolmetsch hat alles in schwarzen Plastikmüllsäcken gesammelt
und, was er gebrauchen konnte, kurzerhand eingesteckt: Gefunden ist gefunden.
In der Tischschublade liegen allerlei Himmelsbleistifte, Himmelsklebstoff, eine
Himmelsschere. Und der Dolmetsch hat lange nicht gewusst, wer das alles
herabwirft und aus welchem Grund. Bis der Rasen eines windigen Tages ganz mit
weißen Blättern bedeckt war - wie unter einem Papierbaum im Herbst.
Stimmzettel! Man muss wissen, hierzulande wird alle naselang ein Referendum
angesetzt. Die Zettel waren adressiert. An: Frau Eggli. In: der besten aller
Welten. Der Dolmetsch ging nachschauen zur Tafel mit den Namensschildern, und
es passte: Frau Eggli wohnt genau über ihm im sechsten Stock. Er stieg hinauf
und klingelte: Vielleicht hatte es ja Zugluft gegeben und die Papiere von ihrem
Fensterbrett geweht. Er wollte sie zurückbringen. Lange machte niemand auf. Der
Dolmetsch wandte sich zum Gehen, da hörte er ein Schlurfen hinter der Tür.
Schließlich öffnete sie sich einen Spalt. Als Erstes fuhr ihm ein beißender
Geruch in die Nase, dann konnte der Dolmetsch eine Frau im schummrigen Türspalt
ausmachen, die schätzungsweise achthundert Jahre alt war. Er wunderte sich, wie
ein derart ausgemergeltes Geschöpf so viel Geruch absondern konnte. Er bat um
Entschuldigung für die Störung und brachte die Rede auf die Stimmzettel, die
ihr wohl aus dem Fenster gefallen seien, er bringe sie zurück. Die Alte
schwieg. Er fragte, nach einem Blick der Vergewisserung auf das Klingelschild:
»Sie sind doch Frau Eggli, oder?« - »Nei, das bin i nöd!«, nuschelte sie
zahnlos und knallte die Tür zu. Dann also nicht, entschied er. Vielleicht ist
sie als Säugling jemandem untergeschoben worden. Und immer noch fällt
gelegentlich etwas von oben herunter.
Vorher hat
der Dolmetsch in einem anderen Haus gewohnt, und das nicht allein, sondern mit
Frau und Sohn. Doch es ergab sich, dass seine Frau jetzt die Frau eines anderen
ist. Dergleichen kommt vor in unserem Reich wie in allen übrigen auch. Nichts Außergewöhnliches.
»Wie
geht's?«, fragt der Dolmetsch seinen Sohn am Telefon jedes Mal.
»Gut«,
antwortet der Sohn darauf immer.
Zu
Weihnachten, als der Dolmetsch sich am Telefon erkundigte, ob das übersandte
Geschenk - ein Zauberkasten - denn gefiel, sagte der Sohn: »Alle kriegen nur
von einem Papa Geschenke, ich krieg von zweien welche. Cool, was?«
»Cool«,
gab der Dolmetsch zurück.
Außerdem
schickt der Junge mitunter lustige Briefe, denen Zeichnungen beiliegen. Einmal
hat er sich ein Land ausgedacht und eine Landkarte dazu gezeichnet.
Der
Dolmetsch hat sie mit Reißzwecken an der Wand befestigt.
Frage: Sie geben
also an, Asyl für Ihre viel geplagte, verwundete Seele zu suchen, die die
Torturen und Erniedrigungen leid ist, die Armut und das Banausentum, den Plebs
und den Pöbel und die allerorts
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