Schischkin, Michail
ich vor mir - wie
leibhaftig! - ihre Knie rosa durch die schwarze Strumpfhose schimmern, und wie
die strammen Schenkel den kurzen Rock zu einem Schirm entfalten. Einmal kam ich
mit einem angebrochenen Fingernagel, und sie fürchtete um ihre Strumpfhose.
Moment!, sagte sie und schnitt mir mit ihrer krummen kleinen Schere den
Nagelrest ab.
Frage: Was hat
Sie zu Ihnen gesagt? Irgendetwas von Belang?
Antwort: Einmal,
als ich den Kopf auf ihren Bauch legte, da sagte sie plötzlich: In einem
früheren Leben war ich deine Mama.
Frage: Und das
mit den Schokoladentalern?
Antwort: Stimmt.
Als Kind bekam sie einmal ein schönes Samttäschchen mit goldener Kette
geschenkt, das mit Schokoladentalern in Gold- und Silberpapier gefüllt war.
Sie fuhren mit der Eisenbahn. Sie wollte sich unbedingt mit der Tasche schlafen
legen, doch es hieß, dann würde die Schokolade schmelzen, und die Taler wären
platt. In der Nacht aber wurden sie beklaut, alles Gepäck war weg - auch das
Täschchen.
Frage: Noch was?
Antwort: Ja, mir
ist noch in Erinnerung, wie sie sich mit einem Lappen die Stiefel putzte und
sagte, in einer Stadt, wo man sich jeden Tag eine Salzschicht von den Schuhen
reiben muss, könne man nicht leben.
Frage: Aber wie hat
sie Ihnen gesteckt, dass sie noch einen anderen hatte?
Antwort: Sie sagte,
die Liebe wäre so groß, dass sie nicht als Ganze existieren könnte. Sie wäre
wie eine Apfelsine - rund und schön und doch aus einzelnen Stücken bestehend.
Man käme nicht umhin, außer dem einen auch noch den anderen zu lieben und einen
Dritten dazu, damit zusammengenommen die große Liebe dabei herauskommt. Die
Menschen, die man liebte, wären alle viel kleiner, die Liebe passte nicht in
sie hinein. Lika hatte so ein Heft, wo sie diverse Gedanken eintrug. Nicht ihre
eigenen natürlich. Irgendwo hatte sie gelesen und in ihr Heft geschrieben, ein
Baum werfe viel mehr Samen aus, als die Erde zum Keimen bringen könne, ein
Bergbach halte sich ein riesiges Bett für das Frühjahrshochwasser in Reserve,
und auch eine Seele könne sich entfalten, wenn es darauf ankommt. Und der Tag
komme gewiss, an dem sie sich auftut... Liebe war das nicht, so viel weiß ich.
Und wenn doch, dann eine Hassliebe.
Frage: Sie
sollten sich da nicht so sicher sein.
Antwort: Themawechsel,
bitte.
Frage: Wie Sie
wollen. Aber haben Sie wenigstens verstanden, warum sie das Kind nach Ihnen
benannte?
Antwort: Sie
bringen mich immerzu durcheinander. Worüber sprachen wir gerade? Ich war dabei,
Ihnen von der Grundausbildung zu erzählen, nicht wahr? Im Anschluss wurden wir
nach Mosdok in Ossetien entsandt. Dort steckte man im Staub wie in einer Höhle.
Frage: Wie das?
Antwort: Da ist so
viel Staub, den man mit dem Schützenpanzer aufwirbelt, dass er ringsum bis in
den Himmel steigt und sich dort zusammenwölkt. Anschließend kommt das Zeug
wieder runter - in die Haare, die Kleider, den Proviant. Nach kurzer Zeit
kannst du die Leute nicht mehr unterscheiden. Die ersten Tage hatte sich mir
der Staub dermaßen ins Gesicht gebrannt, dass ich beim Waschen nicht mit der
Hand darüberfahren konnte, so höllisch tat das weh. Die Gesichter wurden zu
dicken schwarzen Masken, aus denen nur das Weiße der Augen hervorleuchtete.
Wochenlang gab es keine Möglichkeit, sich zu waschen, und wenn dann der
Wasserwagen kam, zogen wir uns nackig aus und wurden mit dem Schlauch
abgespritzt. Die Wäsche wurde gewaschen und nass, wie sie war, wieder
angezogen. Kommen Sie mit dem Schreiben hinterher?
Frage: Ja.
Antwort: Und bei
Regen wird der Staub in Minutenschnelle zu einer undurchdringlichen
Schlammwüste. Alles ein Brei. Der Schlamm schluckt alles, jede Spur. Überall
nur Matsch und Schlick. Der von den Panzern aufgewühlte fette Lehm klebt an den
Sohlen, kiloschwer. Vor dem Zelteingang werden die Stiefel mit dem Feldspaten
gesäubert, trotzdem wandern die Lehmfladen bis in die Betten, unter die Decken,
das Zeug frisst sich in die Jacken, verstopft die Gewehrläufe. Jede Reinigung
kann man vergessen: Kaum sind die Hände gewaschen, klebt alles wieder und
glitscht. Man stumpft ab, wächst mit einer Schlammkruste zu, versucht sich in
der warmen Jacke zu verkriechen, die Körperwärme zu erhalten. Die Hände stecken
im Dreck wie in angegossenen Handschuhen. Das nasse Brennholz wird mit
Dieselöl überschwappt, aus der Konservenbüchse direkt in den Ofen; durch das
klamme Zelt ziehen ätzende, harzige Rauchschwaden.
Frage: Was ist
Ihnen aus den ersten Tagen dort
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