Schischkin, Michail
erinnerlich?
Antwort: Wie wir an
den Kindern vorüberkamen. Eine Schar kleiner Jungen und Mädchen kam auf die
Straße gelaufen. Wir lachten sie an, versuchten auch sie zum Lachen zu bringen,
schnitten Grimassen - keines der Kinder lächelte zurück. Und vor den
verlassenen, abgefackelten Häusern zerrten hungrige Hunde an den Ketten und
heulten. Anders die Hunde in Grosny, die waren fett, sie hatten genug Aas zu
fressen.
Frage: Ist
notiert. Weiter!
Antwort: Einmal
schlugen wir unser Zelt in einem zerschossenen Haus ohne Dach auf, die
Fensterhöhlen füllten wir mit Ziegelsteinen. Da stand ein Buddeleimer herum,
in dem sich Wasser gesammelt hatte und gefroren war. Ich drehte das Eimerchen
um, ein Topfkuchen aus Eis fiel heraus.
Frage: Weiter.
Antwort: Wir hatten
immer solchen Durst, dass keiner die Tabletten zur Wasseraufbereitung, die der
Feldverpflegung beilagen, wirklich benutzte, denn dann hätte das Wasser erst
einmal vier Stunden stehen müssen. In der Zeit konnte einer verdursten. Also
schöpften wir das Wasser mit der hohlen Hand direkt aus dem Fluss und tranken,
eine zementfarbene Brühe.
Frage: Und wie
schmeckte dieses Wasser?
Antwort: Wozu
müssen Sie das alles wissen? Das Wasser roch nach faulen Eiern. Jemand meinte,
Schwefelwasserstoff wäre gut für die Nieren. Das sagten wir uns also beim
Trinken jedes Mal. Wozu sollte man diesen Geschmack der Nachwelt überliefern?
Frage: Fahren Sie
fort.
Antwort: An die
Frauen in den schief getretenen Latschen und knallbunten Kleidern kann ich mich
erinnern. Die Flüchtlingsfrauen in Tschetschenien kleiden sich möglichst
grell. Umwickeln sich den Kopf mit schönen bunten Tüchern. Wer trauert, trägt
doch eigentlich Schwarz, aber sie wickeln sich in das Bunteste, was sie haben.
Eine von denen, das weiß ich noch, lief hin zu dem, was von ihrem Haus übrig
war, stand lange davor und starrte. Dann warf sie mir einen Blick zu und ging
schweigend weg.
Frage: Sonst noch
was?
Antwort: Wie der
Graue zu Tode kam, das weiß ich auch noch genau.
Frage: Wo war
das?
Antwort: In der
Nähe von Bamut. Wir hatten gerade hinter einer Scheune gestanden und eine in
den Ärmel geraucht, die Fluppe in den Tiefen der Jacke verborgen, da raunzte
er: »Bleib, wo du bist, Enoch!«, und sprang auch schon um die Scheunenecke, den
Riemen der Kalaschnikow ums Handgelenk gewickelt. Kurz darauf fielen Schüsse,
und er kam zurückgekrochen mit aufgerissenem Bauch, die Gedärme hinter sich
herschleifend - durch Stroh und Scheiße. Er starb auf der Stelle. Ich saß
daneben und sah zu, wie das Blut sich mit dem Wasser der Pfütze unter ihm
vermengte. Und den Himmel seh ich noch vor mir, Federwolken im Abendrot, wie
gerippt.
Frage: Was
empfanden Sie da, nach allem, was er Ihnen angetan hatte?
Antwort: Der Graue
war ein guter Kerl. Ohne ihn wäre alles noch viel schlimmer gewesen. Die
Entmenschung hatte brutal um sich gegriffen, er war der Einzige, der sich noch
zusammennahm. Einmal nach einem Gefecht fiel uns ein Verwundeter in die Hände.
Und wir hatten kurz zuvor erleben dürfen, was die mit unseren Verwundeten
anstellten, so etwas hatte ich noch nicht gesehen: Zweien unserer Jungs hatten
sie die Augen ausgestochen, die Ohren abgeschnitten, sämtliche Gliedmaßen ausgerenkt
und umgedreht. In unserem Zorn banden wir ihn an den Schützenpanzer und
schleiften ihn ausgiebig durch den knochenharten Lehm. Dann ließen wir ihn auf
offener Fläche liegen, wollten ihn langsam in der prallen Sonne verrecken sehen.
Der Graue ging hin und erschoss ihn. Aus Mitleid. Das missfiel allen, aber
keiner wagte gegen den Grauen Einspruch zu erheben. Und dann so ein dämlicher
Tod. Aber einen klügeren gibt es wohl nicht. Einmal schoss ich eine Panzerfaust
ab und hantierte dabei so ungeschickt, dass der Abgasstrahl dem Grauen direkt
ins Ohr schlug. Er rollte die Böschung hinunter, hielt sich die Nase zu, um den
Druck aus den Ohren zu kriegen, schluckte. Ich dachte: Der bringt mich um! -
aber nichts dergleichen. Er hat geflucht, das war alles. Dort im Krieg war der
Graue so was wie mein Bruder. Wir teilten miteinander das Fressen und
wickelten uns in kalten Winternächten zu zweit in einen Teppich. Man schlief ja
ganz verschieden, mal auf offener Straße, mal im luxuriösen Bett, ohne sich
auszuziehen, in den schmierigen Jacken. Tut mir leid um ihn. Wenn es was zu
saufen gab, kippte er seine Ration und hielt andächtig inne: Boah, das zieht
rein! Als ginge der liebe Gott barfuß durch die Adern... Das ist
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