Schischkin, Michail
Brotteig haben die alten Ägypter mit den Füßen
geknetet, den Lehm mit den Händen. Und auch zum Ausmisten nahmen sie die Hände,
denn die Kuh ist ein heiliges Tier, der Mist demnach auch heilig, wie überhaupt
alles, was des Lebens ist, das Höchste ebenso wie das Gemeinste. Und was lässt
sich Gemeineres denken als ein Mistkäfer. Folglich ist er das Allerheiligste.
Woher er
das alles nur weiß? Denkt er es sich womöglich aus? Vielleicht ist in Wahrheit
alles viel einfacher: dass der Mist in unserem Klima viel zu lange ein
feuchter, stinkender Fladen bleibt, während er in Ägypten in Minutenschnelle
ausdörrt? Aber ach, wie öde ist meine Misthaufenphilosophie und wie wunderbar
die Welt, in der er lebt!
19.
Februar 1916. Freitag
Gestern
sah ich ihn in Andrejews Gedanken. Er spielt
göttlich. Einzigartig!
Und heute
war ich wieder eine ganze Stunde mit ihm spazieren. Wir sprachen von den
wichtigen Dingen. Nicht alles habe ich verstanden.
Das ganze
Leid von uns Russen komme von der Verachtung des Fleisches. Alles sei auf den
Kopf gestellt: Das Heiligste werde in den Dreck gezogen. Gerettet
sind die, die mit Weibern nicht befleckt sind - denn sie sind jungfräulich. Bei den
alten Babyloniern hatte ein Mann jedes Mal, wenn er mit einer Frau Verkehr
gehabt, ein Räucherstäbchen anzuzünden - und die Frau, mit der er verkehrt
hatte, tat an einem anderen Ort des Hauses dasselbe.
In Babylon
gab es außerdem den Brauch, dass jede Frau sich einmal im Leben im Tempel der
heiligen Melitta einem Fremden hingeben musste. Das galt für alle
gleichermaßen: Arm und Reich, Edelfrau und einfache Bäuerin. Sie saß im Tempel
mit einem Kranz von Schnüren auf dem Kopf und durfte nicht eher nach Hause
gehen, bis ihr irgendwer - und sei es ein Fremder, Dahergelaufener, Krüppel
oder Kretin - eine Münze in den Schoß warf und sagte: Ich rufe dich im Namen
der Göttin Melitta. Und war die Münze noch so gering, die Frau durfte ihn nicht
abweisen, sie ging mit ihm mit, wer immer es war. Das ist wahre Nächstenliebe!
Anständige Frauen erwiesen so jenen eine Gnade, die der Liebe, der Zärtlichkeit
und Wärme entbehrten - dessen also, was jeder zum Leben am nötigsten braucht.
Darin liege die höchste Form von Weisheit, Reinheit, Heiligkeit, Liebe. Und
wärest du ein Krüppel, ein Abschaum, eine Missgeburt - du wärest doch ein
Mensch, der Liebe würdig. Das sei das wahre Gnadengeschenk, nicht unsere
elenden Kopeken.
Ich kann
dem nicht vollends beipflichten, fühle aber, dass etwas daran ist.
Frühling
liegt in der Luft. Der Schnee schmilzt. Nachts feiner Regen.
20.
Februar 1916. Samstag
Gestern
war die letzte Vorstellung. Morgen reist Leonid Michailowitsch ab. Wir trafen
uns, um Abschied zu nehmen, und hatten Lust zu einen letzten Gang durch unseren
Park. Tauwetter, alles löst sich auf, die Wege unbegehbar. Wir liefen auf dem
Trottoir längs des Zaunes auf und ab. Mehrmals sagten wir Lebewohl und gingen
dann doch noch ein Stück. Schließlich lud Leonid Michailowitsch mich zum
Abendessen ins Restaurant auf der Bolschaja Moskowskaja ein. Ich war schon
dabei, dankend abzulehnen - und hörte mich plötzlich die Einladung annehmen!
Vor dem Eingang wurde mir dann mulmig. Ich fürchtete, irgendwelche Bekannten
könnten mich sehen. Außerdem war ich absolut unangemessen gekleidet. Leonid
Michailowitsch sprach mit jemandem vom Personal, und man geleitete uns an den
Türen zum Großen Saal vorbei in ein Separee. Silberbesteck, Kristallgläser,
gestärkte Servietten, Palme vor dem Spiegel... eine Pracht! Und zugleich
beängstigend. Wir nahmen auf einem Samtsofa am Kamin Platz. Er setzte zum Handkuss
an, ich zog meine Hand weg, genierte mich wegen der beknabberten Nägel. »Was
werden Sie zu Hause sagen?«, fragte er. »Dass ich bei meiner Freundin war.« Ich
führte mich auf, als säße ich jeden Tag im Restaurant. Dabei bebte ich
innerlich! Und wusste nicht, wer mir mehr Angst einjagte - er oder ich selbst.
L. bestellte alles Mögliche. Champagner wurde gebracht, im Kübel auf Eis. Wir
stießen an: »Auf Ihre Zukunft!« -»Auf meine Zukunft!« Ich brauchte nur zu
nippen, schon floss mir eine wunderbar warme Welle durch den ganzen Körper!
Leonid Michailowitsch erzählte von seiner Frau, den Kindern. In meinen Ohren
dröhnte es nur: Wo bin ich? Was geht hier mit mir vor? Das kann doch nicht wahr
sein?
Er ist zum
zweiten Mal verheiratet, und wieder nicht glücklich. Seine Frau und er tun seit
geraumer Zeit nur noch so, als
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