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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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wissen, wie es ist, den Nächsten zu verlieren, in diesem Moment
die rechten, würdigen Worte fand! Bis sie urplötzlich wieder zu mäkeln anfing,
ich hätte wohl keinen Spiegel zur Hand gehabt, als ich mein Mützchen aufsetzte,
das sähe man. Und zum Abschied sagte sie: »Wenn du eine große Schauspielerin
werden willst, musst du alles über die Liebe wissen - und ohne sie leben
können.« Mein Gott! Anscheinend ging es ihr auch jetzt nicht darum, Trost zu
spenden, sondern die Rolle des Trostengels zu spielen!
    Ich will
keine große Schauspielerin werden. Ich will meinen Aljoscha wiederhaben!
    Vorhin
wollte ich das Datum notieren und wusste nicht, welches. Sonnabend, so viel
weiß ich.
    Immer noch
falle ich zuweilen urplötzlich in ein Loch, verliere mich. Heute irrte ich eine
Weile durch die Wohnung, schaute aus dem Fenster in den Garten, wo wir die
Dahlien im Herbst abzuschneiden versäumten, sie wurden platt gedrückt vom
Schnee und blieben so, bis es taute, jetzt sind es nur noch braune, schlierige
Klumpen. In dem Moment kam Mama nach Hause und nahm mir wortlos den Kochtopf
aus den Händen. Mit dem war ich offenbar längere Zeit durch die Wohnung
gerannt. Wenn ich mich hinlege, komme ich schwer wieder hoch. Wozu aufstehen,
essen, reden, rausgehen? Lieber zählen die Augen noch einmal die Streifen auf
dem Teppich. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Siebenunddreißig, achtunddreißig.
Eins, zwei, drei, vier, fünf. Und die Kehle ist so trocken, als hätte ich ein
Glas Sand statt Wasser getrunken. Ich liege da, und mir gehen die Monologe
durch den Kopf, die ich bei Nina Nikolajewna auswendig lernen musste. »Ich bin
allein...« Ich hatte ja keine Ahnung, wovon da die Rede ist. »Ich bin
allein...«
     
    8. Februar
1916. Montag
    Heute
blieb ich in der Pause allein in der Klasse zurück. Die Fenster zum Lüften
weit offen. Alles kam mir auf einmal so fremd und unbekannt vor. Was ist das um
mich her? Wo bin ich? Zu welchem Zweck? Da schaute Musja zur Tür herein, meine
Musja, und ich hatte wieder einmal vergessen, Süßigkeiten für sie zu kaufen.
Sie kam zu mir gerannt, küsste und streichelte mich. Ich drückte sie, presste
sie an mich, ganz fest.
    Es hat
wieder zu schneien begonnen.
     
    9. Februar
1916. Dienstag
    Heute ist
mir etwas Arges passiert. Kostrow hat mich ausfindig gemacht. Sowie ich ihn
sah, ahnte ich, worum es ging, und wusste sofort, ich würde ablehnen. Er sagte,
die Ogloblina sei krank und in drei Tagen Premiere, zu der der große L. geladen
sei, der gerade in Rostow gastiere. Er versuchte mich zu überreden, dass ich
einspringe - es wäre die Rettung für ihn und für alle. Ich sagte Nein. Kostrow
war so niedergeschlagen, dass mich auf einmal großes Mitleid überkam. »Na gut«,
sagte ich. Kostrow schwebte selig von dannen. Seither bin ich außer mir. Was
fällt mir ein? Wie komme ich dazu?
    Das ist
Verrat.
    Aljoscha,
Geliebter, morgen gehe ich hin und sage ab.
     
    13.
Februar 1916
    Heute war
die Premiere.
    Wie
seltsam das alles! Wie verworren! Kurz vor der Vorstellung, als ich beim
Maskenbildner saß - extra vom Asmolow-Theater engagiert - und frisiert wurde,
war ich nahe daran aufzuspringen und wegzulaufen, er musste mich mit Gewalt in
den Sessel drücken, damit ich stillhielt. Alle rannten durch die Gegend wie
übergeschnappt, brabbelten ihren Text vor sich hin. Kostrow drückte jedem
einzeln die Hand und wünschte Hals- und Beinbruch. Zum Teufel!, muss man darauf
sagen. Plötzlich der Gedanke: Was tue ich hier unter all diesen Verrückten in
Faschingskostümen, mit angeklebten Schnurr- und Backenbärten? Was hat das für
einen Sinn? Kostrow kam zu mir: »Und, Bellotschka? Alles in Ordnung?« Ich
bezwang mich und nickte. Schloss die Augen, sagte mir ein ums andere Mal:
Sammle dich. Konzentration! Nur der Text ist wichtig, nur die Rolle. Alles
Übrige hat Zeit bis morgen. Ich bin Klang, ich bin Wort, ich bin Geste. Alles
wie bei Nina Nikolajewna gelernt. Im Kopf ihre Stimme: Wenn du deinen Körper
nicht beherrschst, beherrscht er dich.
    Das
Weitere geschah wie im Nebel. Ich schlüpfte aus meiner Haut, verwandelte mich
in eine vollkommen andere Frau. Und stand doch die ganze Zeit neben mir,
beobachtete mich selbst. Meine Stimme klang sehr anders. So ging ich hinaus und
spielte, was zu spielen war. War das etwa noch ich?
    Und als es
zuletzt ans Verbeugen ging, da schoss mir durch den Kopf: Was, wenn Aljoscha
gar nicht tot ist, sondern unversehens zurückgekehrt, ohne jemanden
vorzuwarnen, hat

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