Schischkin, Michail
dem Moment kam Mama in die Küche. Fing an,
auf mich einzubrüllen. Ich schwieg. Sollte die Wahrheit sagen: wo ich gewesen
sei. Erst wollte ich sie anlügen, ich wäre bei Tala gewesen. Aber dann überkam
es mich: Ich wollte ihr wehtun! »Willst du das wirklich wissen?«, fragte ich.
»Ja!« - »Ich war in der Bolschaja Moskowskaja bei Leonid Michailowitsch.«
Sprach's und ging rauf zu mir. Hörte Mama in der Küche weinen, ging aber nicht
wieder hinunter.
Aljoscha,
ich habe Dich verraten.
Damals bei
uns wollte es nicht klappen, weißt Du noch? Wir wussten uns beide nicht zu
helfen. Ich habe Dich doppelt verraten, Aljoschenka, denn nun weiß ich, was der
Körper kann. L. zaubert mit den Händen. Wie wunderbar und wonnevoll, in seinen
Armen eine Frau zu sein!
Damals mit
Dir, Aljoscha, war nur Schmerz und Angst und Pein. Mit ihm war alles ganz
anders. Ich bin ihm dankbar dafür.
Und weißt
Du, was das Schlimmste ist, Aljoscha? Ich habe ihm von Dir erzählt. »Dann war
es nicht er«, sagte er. Ich begriff zuerst nicht, was er meinte. »Wie, nicht
er?« - »Na, eben nicht der Richtige.«
Aljoscha,
verzeih mir, ich bin Deiner nicht würdig.
Erst jetzt
habe ich begriffen, dass Du mich immer lieben wirst, Aljoschenka. Immer und
ewig! Wirst keine andere haben als mich.
Ich hasse
und verachte mich.
14. April
1916. Donnerstag
Ich hatte
beschlossen, dass es keine Tagebücher mehr geben wird, aber nun fand ich beim
Aufräumen meines Schreibtischs dieses leere Heft. Es war einmal als Tagebuch
vorgesehen.
Die Njanja
ist gestorben. Während der Butterwoche. Hat es nicht mehr ganz bis zu Ostern
geschafft. Ostern zu sterben war ihr Traum gewesen.
Die
letzten Wochen hat die Njanja sehr gelitten. Sie sah zum Fürchten aus: ganz
ausgemergelt, Gesicht und Hals voller schlaffer Falten. Sie wurde auf dem
Tisch aufgebahrt, darunter kam ein alter eiserner Waschzuber voll mit Eis. Über
Nacht trat die Verwandlung ein, alle Runzeln glätteten sich, so als hätte es
die gräuliche Krankheit nicht gegeben.
Zur
Totenmesse sprangen mich plötzlich die Worte an: an einem
Ort voll Anmut, Friede, Licht... Mein Gott, wie schön! Darin steckt
so viel Wärme, Lieblichkeit... An einem Ort voll Anmut, Friede, Licht - wo mag
das sein?
Ihr Mann
ist früh gestorben. Als ich sie einmal fragte, warum sie kein zweites Mal
geheiratet hat, antwortete sie: »Die Toten sehen uns doch die ganze Zeit, sind
mit uns traurig oder froh...
Und wenn
wir uns eines Tages wiedersehen, wie stünde ich da - mit zwei Männern?«
Den
Osterkuchen hat Mama gemacht, aber er gelang ihr nicht richtig. Die Njanja,
wenn sie den Osterkuchenteig eingerührt und in die Form umgeschaufelt hatte,
hielt mir immer den Holzlöffel hin: »Ablecken!« Und ich schleckte mit Genuss.
Es gab nichts Leckereres! Diesmal hat Mama mir den Löffel hingehalten und
»Ablecken!« gesagt. Ich sah sie nur an und ging hinaus. Mama und ich, wir sind
einander vollkommen fremd geworden.
An sich
war alles wie immer: das festliche Geläut, die durch die Gassen ziehenden
Kerzenlichter, doch es wollte keine Osterstimmung aufkommen. Und einzig die
Njanja hätte ich um Verzeihung bitten gewollt, das ging nun schon nicht mehr.
Sie hat in
ihren letzten Wochen immerzu in der Bibel gelesen, verschiedene Propheten: Und
es wird kommen das Ende der Welt, und der Bruder erhebt die Hand gegen den
Bruder, und es wird sein Hunger und Pestilenz, und es kommt die Zeit, da wird
man in der Felsen Höhlen gehen und in der Erde Klüfte vor der Furcht des
Herrn... Vielleicht hat ihr das den Abgang erleichtert?
Beim
Totenmahl fiel es Vater ein zu erzählen, dass die Moslems ihre Toten nicht in
Särgen begraben, sondern in Leichentücher hüllen, auf speziellen Tragen zum
Bestattungsort bringen und mit den Füßen voran in die Grube rutschen lassen,
das Gesicht gen Mekka gerichtet, und wenn ein Moslem eine Christin oder Jüdin
zur Frau hat, und man weiß, sie ist schwanger, und sie stirbt, dann muss sie
wiederum in ihrem Grabe Mekka den Rücken kehren, damit das Kind in ihrem Bauch
in Richtung der geheiligten Stätten schaut. Während ich ihm zuhörte, fiel mir
mit einem Mal auf, wie alt Vater geworden ist. Auch wenn er in letzter Zeit
Mühe darauf verwendet, jünger zu wirken, sich das Grau aus dem Haar färbt,
einen modischen Anzug gekauft hat, Marengo-Fischgrätenmuster - das alles lässt
ihn nur noch älter aussehen. Er trägt einen Verband am Finger: hat bei einer
schwierigen Operation ausgeholfen und sich
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