Schischkin, Michail
einer aufgeknüpft wurde - angeblich ein gewisser Afanasjew, roter
Agitator. Auf dem Bahnhofsvorplatz. Ich wollte Brennspiritus kaufen gehen und
sah die große Menschentraube. Dicht gedrängt und schweigend. Ein paar schluchzende
alte Frauen. Er wurde gebracht, mit Gewehrkolben vorwärtsgestoßen. Kaum älter
als fünfundzwanzig. Man führte ihn unter einen Baum. Nicht einmal ein Galgen
war errichtet worden. Wozu auch, wenn es doch Bäume gibt? Ein Soldat legte ihm
die Schlinge um den Hals, zielte und warf das Seil über einen dicken Ast. Beim
ersten Mal klappte es nicht. Er musste noch mehrmals werfen. Der Junge stand
da, starrte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Wollte noch etwas rufen,
kam nicht mehr dazu.
Mehr tot
als lebend kam ich zu Hause an. Schlug das Buch der Nikitina auf. Wolken
jagen / Böen schlagen / Fenster ein. / Tropfen
platzen. / Soll es das gewesen sein? Gott, was
für ein Schwachsinn! Rosen im Frühlicht. Der
bezaubernden Isabelle. Ich schmiss das Buch in die Ecke.
Wieso
eigentlich Isabelle? Was fällt ihr ein, mich so zu nennen? Alle verrenken sie
sich und wollen wer weiß was sein. Das ist ekelhaft. Und ich bin genauso. Da
gehe ich jedenfalls nicht mehr hin.
Muss die
ganze Zeit an Pawel denken. Wie wird es ihm ergehen? Wo ist er? Ich habe solche
Angst um ihn. Ich kann nicht mehr.
16. August
1919. Freitag
Musja kam
zu Besuch. Wieder Bäche von Tränen. »Was ist denn los? Hat er sich umgebracht?«
- »Nein.« - »Was heulst du dann so?« - »Er liebt mich nicht mehr!« - »Dann ist
doch alles gut!« -»Aber jetzt liebe ich ihn!«
17. August
1919. Samstag
Pawel ist
zurück. Gottlob heil und unversehrt. Eben war er kurz hier, sagte, heute oder
morgen würden General Bredows Truppen Kiew einnehmen. Dann ist er gleich in
sein Labor gedüst. Hohlwangig, unrasiert, der Uniformmantel dreckig, mit gold
schimmernden Mistflecken.
Weitergeschrieben
am Abend. War gerade bei ihm. Schaut sehr schlecht aus. Musste wieder eine
Menge grässlicher Dinge mitansehen. Hat erzählt, wie er Artillerie bei einer
Fahrt querfeldein begleitete, es wurde gekämpft, überall lagen Tote. Schwierig,
die Geschütze zu bewegen, ohne einen Menschen zu überfahren: Die Roten waren
auf der Flucht oder ergaben sich, doch den Kosaken stand der Sinn nach einem
Gemetzel. Die Fahrer machten sich einen Spaß daraus, Köpfe zu überrollen,
sodass sie unter den Rädern wie Melonen platzten. Als Pawel sie deswegen
anging, schworen sie, es sei der reine Zufall gewesen, und lachten höhnisch
dabei. Er stieg ab und ging zu Fuß weiter, um das Knirschen der Schädel und das
Gejohle nicht hören zu müssen. »Manche Tote zuckten noch, oder sie waren noch
nicht ganz tot. Und weißt du, was mir klar geworden ist? Dass ich sie alle
hasse!«
Wir
standen im Schein der roten Funzel. Er seine Bäder anrührend, ich ihm Kopf und
Rücken streichelnd. Mir schien, dass er fieberte. Ich bekam einen Schreck:
womöglich Typhus? Es sei eine gewöhnliche Erkältung, beschwichtigte er. Aber
mir ist bang.
Habe
wieder nichts gesagt.
18. August
1919. Sonntag
Heute den
ganzen Tag im Soleil. Habe mich gerade nach Hause geschleppt, müde wie ein
Hund. Will nur noch ein paar Worte aufschreiben.
Wir,
Torschin und ich, hatten gerade das vierte Divertissement hinter uns gebracht,
gingen auf den Hof zum Verschnaufen - und wer stand auf einmal vor uns? Meine
liebe Nina Nikolajewna! Wutentbrannt, die reinste Furie. Ich hatte gar nicht
bemerkt, dass sie im Saal gesessen hatte. »Was habt ihr da gespielt?«, fragte
sie missmutig. »Wie - was? Den hungrigen Don Juan! Ein Gymnasiast erklärt sich
seiner Angebeteten und denkt dabei ans Essen.« Da explodierte Nina Nikolajewna.
»Nein, das habt ihr ganz bestimmt nicht gespielt! Was ich gesehen habe, war,
dass euch heiß ist und ihr das alles möglichst schnell herunterhaspeln wollt
und nach Hause!« - »Aber Nina Nikolajewna«, flehte ich um Erbarmen, »das war
unsere vierte Vorstellung heute!« - »Was geht den Zuschauer das an?«, parierte
sie bissig. »Beim Friseur interessiert ihr euch doch auch nicht dafür, wie
viele Köpfe der Meister heute schon hergerichtet hat und wie viele Stunden er
auf den Beinen ist!« Dann ging sie mit uns noch einmal die ganze Szene durch,
bevor sie uns zur fünften Runde auf die Bühne entließ.
Hier noch
eine nicht abgeschickte Ansichtskarte.
Eine, auf
der Fischkutter aus dem Regen gekrochen kommen wie zum Fenster herein.
Das Haus
befindet sich in der
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