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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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andere
darauf gesagt oder sagt es jetzt, ist ja wahr, so geht es wirklich nicht weiter.
Und nebenan im Sessel krümmt sich ein Kind und möchte wieder ganz klein sein,
blind und taub, nichts sehen und hören, wie ein Kissen.
    Als der
Dolmetsch den nassen, glitschigen, stellenweise in den Felsen gehauenen Pfad
zum Meer hinabstieg, sah er plötzlich unten, direkt vor der Brandung, jemanden
stehen. Eine dicke, kurzbeinige Frau in rosa Plastikregenkutte mit Kapuze. Sie
wandte sich missmutig um, man sah, sie wollte allein hier stehen, er störte.
    Ihr
Gesicht kam ihm bekannt vor.
    »Buona
sera!«, sagte der Dolmetsch.
    Sie wandte
sich ab, ohne zu antworten.
    Eine Weile
stieg der Dolmetsch zwischen den Felsen umher, doch die Frau ging nicht, ihre
alberne rosa Gestalt gluckte da herum, zog den Blick penetrant auf sich.
    Sie hätte
auf seinen Gruß wenigstens nicken können.
    Da bin ich
extra bis hierher gefahren, um zur Ruhe zu kommen, und bin schon wieder
jemandem im Weg!
    Daraufhin
beschloss der Dolmetsch, dass nicht er ihr im Weg war, sondern sie ihm, und er
sagte sich: Ich werde hier stehen bleiben, bis die mit ihrem rosa Regencape das
Weite sucht, nun gerade.
    So stand
er, gegen einen Felsen gelehnt, damit es weniger zog, und überlegte, an wen ihn
diese Frau erinnerte. Das ging ihm im Ausland des Öfteren so, dass er
Doppelgängern seiner Moskauer Bekannten begegnete. Der gleiche Mensch, in einer
parallelen Welt lebend. Genauso mochte auch er, der Dolmetsch, jetzt durch die
Straßen diverser Städte laufen.
    Der Wind
und das Rauschen der Brandung legten sich auf die Ohren. Es begann dunkel zu
werden.
    Auf einmal
wusste der Dolmetsch, an wen ihn die Frau im rosa Cape erinnerte. Es war schon
viele Jahre her, darum war er nicht gleich darauf gekommen.
    Sie
ähnelte jenem Mädchen, das im Schlaf immer wie eine Kraulschwimmerin ausgesehen
hatte. Dieses Mädchen hatte sich seiner Brust wegen geniert. Da war bei ihr ein
Flecken Froschhaut. Als hätte die Menschenhaut nicht gereicht, und das Erstbeste,
was zur Hand war, wäre angeflickt worden. Eine Froschkönigin.
    Dieses
Mädchen hatte sich eines Tages vor ihm im Bad eingeschlossen, mit Tabletten
vollgestopft und die Pulsadern aufgeschnitten, da waren sie beide neunzehn.
Als er beim Notarzt anrief, hieß es: »Aha, schon wieder ein Dornröschen.« Er
verstand nicht. Dass Mädchen, die Schlaftabletten schlucken, dort so hießen,
konnte er nicht wissen. Der Arzt, der ihr die Handgelenke verband, sagte
grinsend: »Sollten Sie mit dem Selbstmord mal Ernst machen wollen, dürfen Sie
nicht quer schneiden, sondern längs.« Hinterher musste der Dolmetsch den
Fußboden in Bad und Korridor wischen, überall Blut, und die Sanitäter hatten
zusätzlich Dreck hereingeschleppt, es war zur Zeit der Frühlingsschmelze. Jahre
später schnitt die Froschkönigin sich die Pulsadern auf, wie es sich gehörte -
längs.
    Der Wind
wurde immer stärker. Es hatte auch wieder zu regnen begonnen. Der Dolmetsch
war nass bis auf die Knochen und durchgefroren. Vehement brach die Dämmerung
herein, so schnell, wie es das nur im Süden gibt. Das alberne rosa Regencape
leuchtete unverändert vor dem Hintergrund des Meeres auf dem der Brandung
trotzenden Fels.
    Auf einmal
wollte der Dolmetsch nur noch nach Hause und erzählen. Von der Froschkönigin
und wie er hier gestanden hatte und in den aufkommenden Sturm geschaut.
Vielleicht mit dem Sohn noch irgendein Spiel spielen. Sie hatten extra einen
großen Karton mit den verschiedensten Brettspielen eingepackt. Er sehnte sich
nach Wärme, Behaglichkeit, dem Haus.
    Er sehnte
sich zurück in die Umarmung. Alles Leidige vergessen. Nachts im Bett liegen
und dem Sturm lauschen, fest aneinandergeschmiegt.
    Und morgen
früh schiene wieder die Sonne wie damals, und das Meer schaukelte sacht am
straff gezogenen Horizont.
    Der
Dolmetsch trat den Rückweg an. Kraxelte den nassen Pfad hinauf, die
glitschigen, in den Stein gehauenen Stufen. Während er aufstieg, wurde es
gänzlich dunkel. Das Leuchtcape schien immer noch auf etwas zu warten.
    Als der
Pfad abbog und der Dolmetsch sich ein letztes Mal umschaute, hatte der Felsen
mit dem rosa Fleck sich von der Küste gelöst und trieb aufs offene Meer hinaus.
     
    17.
September 1924
    Hundert
Jahre habe ich kein Tagebuch geschrieben, und jetzt sah ich dieses Notizheft
liegen, eigentlich hässlich, aber was tut das. Hauptsache, Serjosha, ich kann
dir alles erzählen! Meine Briefe ängstigen Dich. Weil sie verloren

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