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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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kleinen Hafengemeinde Massa Lubrense, direkt am Meer. Bei
gutem Wetter ist links Capri zu sehen und rechts der Vesuv.
    An diesem
Morgen aber ließen weder Capri noch Vesuv sich blicken, man hatte nur die
Alternative, unterm Regenschirm spazieren zu gehen oder zu lesen. Isolde war
mit dem Jungen spazieren gegangen, also schleppte der Dolmetsch die zwei
Bücherstapel, die er vor seiner Abreise in der Bibliothek des Slawischen
Seminars zusammengesucht hatte, in Migros-Papiertüten aus dem Kofferraum ins
Haus.
    Durch das
Küchenfenster konnte er sehen, wie klein Frau und Kind an der Uferpromenade
waren und wie gewaltig die Tatzen der Brandung.
    Der
Dolmetsch wischte das Tröpfchenmuster vom Einband des obersten Buches -
gesammelte Hagiografien russischer Heiliger - und begann zu blättern. Er stieß
auf die Lebensbeschreibung Antonius', des Römers, und las sich an der
Geschichte des zum Nowgoroder Wundertäter mutierten Italieners fest.
    Der
heilige Antonius ward 1067 in Rom als Kind reicher Eltern geboren und in
Frömmigkeit erzogen. Früh zur Waise geworden, verteilte er sein ganzes Erbe an
die Armen und ging, das gerechte Leben zu suchen, auf Wanderschaft, stieß
jedoch allenthalben nur auf Lüge, Unzucht und Ungerechtigkeit. Er suchte nach
Liebe und fand sie doch nicht.
    Frau und
Kind hatten sich weiter verkleinert, waren nur mehr wie ein Tropfen an der
Scheibe so groß.
    Einmal lag
er ausgestreckt inmitten von Blumen und sah, wie das weiße Kreuz in den roten
Petunien eine Kolonne Ameisen zum Sturm auf ihr Ameisenjerusalem rief. Im
selben Moment schlug eine Turmuhr, und Antonius zuckte zusammen - das halbe
Leben war vorüber. So vermag Gott zu einem Gegenstand, zur Kreatur oder zum
Glockenschlag gerinnen - wie Milch zu Quark.
    Tief
verzweifelt also und im Herzen gram, so fuhr der Verfasser der »Vitae«
fort, floh Antonius die Stadt. Lief, ohne sich umzusehen, Tag
und Nacht, bis er das Meer erreichte. Hier ging es nicht weiter, er erklomm
einen aus dem Wasser ragenden Fels. Stand dort, der Stadt den Rücken gekehrt,
den Blick auf das Meer gerichtet, einen ganzen Tag. Die Nacht brach herein, er
aber wich nicht von seinem Stein und wandte kein einziges Mal das Haupt. So
stand er noch einen Tag und noch eine Nacht. Eine Woche. Zwei Wochen. Einen
Monat. Und da, mit einem Mal, brach der Fels von der Küste ab und schwamm
davon.
    Im
Weiteren trieben Strömung und Legende den Felsen samt Antonius um Europa herum
und geradewegs bis an die Ufer des Wolchow. Von da an wurde der Bericht
ziemlich banal: Wunderheilungen, unverwesliche Gebeine und so weiter, welch
Letztere mitsamt dem silbernen Schrein im Jahre 1933 abhanden kamen. Einzig der
Riedgrashalm war noch da, mit dem in der Hand Antonius einst von Rom her
anlandete.
    Dann kam
Isolde zurück und sagte, sie werde morgen mit dem Sohn abreisen, denn sie könne
unmöglich so weiterleben.
    Isolde und
der Dolmetsch hatten die Idee gehabt, hier an diesem Ort Ferien zu machen, um
so vielleicht noch ihre Familie zu retten.
    Wobei
diese Familie eigentlich schon nicht mehr existierte. Sie lebten nur noch in
derselben Wohnung und wurden darüber immer verbitterter. Isolde packte jede
Nacht das Kind zwischen sich und ihn. Genauso hatte es früher die Mutter des
Dolmetschs in der Kellerwohnung am Starokonjuschenny gemacht: ihn mit zu sich
aufs Sofa genommen, damit das Kind, das doch hätte verbinden sollen, als
Schutzschild diente, als Mauer, als Grenze.
    Den Ort,
Massa Lubrense, hatten sie mit Bedacht gewählt, weil sie hier schon einmal die
Ferien verbracht hatten, ein paar Jahre vor diesem Regen.
    Damals war
alles anders gewesen. Links konnte man jeden Tag Capri liegen sehen und rechts
den Vesuv. Durch das Schlafzimmerfenster kamen die Fischkutter gekrochen. Jede
Nacht fuhren die Fischer des Ortes hinaus aufs Meer und brachten des Morgens
frischen Fisch an und Frutti di Mare, »Meeresfrüchte«, die dem Sohn Angst
machten, weil sie lebten und zappelten.
    Das Meer
hatte sachte schaukelnd am Horizont gehangen wie an einer Wäscheleine.
    Manchmal
gab es kurze, heiße Regengüsse, nach denen alles glänzte und dampfte. Einmal
buddelte der Sohn in einem regennassen Blumenbeet und verkündete plötzlich,
Regenwürmer seien die Därme der Erde.
    Sie hatten
jeden Tag gebadet. Bisweilen spülte es Schaum und Dreck an den Strand, im
Wasser trieben Algen und Melonenschalen, doch wenn man weiter hinausschwamm,
begann etwas ganz Neues: Dort herrschten Helle und Klarheit im Wasser und am
Himmel,

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