Schischkin, Michail
Schuss hin
lehnte der Wind sich aus dem Fenster und sah nach unten, worauf der zweite obdachlose
Panzerfahrer aus der darüberliegenden Etage eine Schlinge über ihn warf und
straff zog, den alten Mann zu sich nach oben zerrte und zum anderen Fenster
wieder rausschmiss, das nach hinten lag, ein kleiner Park im goldenen
Abendlicht, vom Mauersegler durchstrichen wie die schwungvolle Unterschrift
unter ein Todesurteil, wo der dritte Geselle den toten Wind an den Ast hängte.
Die Dunkelheit brach zügig herein. Mit dem Vorortzug fuhren Sie nach Podlipki,
wo Ihre alte Mutter wohnte und auch Ihre Schwester, die Russischlehrerin war.
Auf dem Bahnhof wurde über Lautsprecher unentwegt verkündet, das Leben sei ein
gespannter Bogen und der Tod der abgeschossene Pfeil. Im Zug, der stickig und
überheizt und dessen Scheiben beschlagen waren, hielten Sie den Koffer an sich
gepresst und malten sich aus, wie Mutter und Schwester jetzt am Tisch saßen und
Nachrichten guckten, Tee dazu tranken und Quarkpfannkuchen aßen; eben wurde
gezeigt, wie ein mit Geiseln voll besetzter Bus in Nasran explodierte,
Menschenteile schwebten kunstvoll in Zeitlupe, wie große rote Schneeflocken.
Der ganze Zug las Krimis. Das war verständlich. Ein Kriminalroman setzt
voraus, dass vor dem ersten Verbrechen, bis zum Auftauchen der ersten Leiche
eine Art ursprüngliche Harmonie auf Erden herrscht. Die ist nun verletzt, und
der Kommissar wird, indem er den Mörder ausfindig macht, die Weltordnung
wiederherstellen. Das ist die althergebrachte Funktion eines Kulturhelden. Er
ist furchtlos. Hegt keine Zweifel, wo das Gute ist und wo das Böse, denn das
Gute siegt am Ende immer und unfehlbar: Siegt es, dann ist es das Gute. Gelesen
wird ja überhaupt nur, weil es einen graust, wie eine Mücke durch das Leben zu
schwirren - unsichtbar, unhörbar, umnachtet. Ein Kriminalroman ist der gleiche
Horror wie das, was in den Zeitungen steht, nur mit dem Unterschied, dass er
gut ausgeht. Er kann gar nicht anders. Erst einmal Komplikationen, Ängste,
Aufregung, Tränen, Verluste, aber zu guter Letzt hat man es hinter sich. Wie im
Märchen: Das böse Höllentier hat die Insel erobert und herrscht über die
Menschen - bevor sie recht beschrieben und zu Ende gezeichnet sind, hat es
ihnen schon die Köpfe abgebissen. Die Menschen leben in Furcht, aber sie leben;
was sollen sie anderes tun. Bis eines Tages der Held erscheint, platzend vor
Wagemut und fernöstlicher Weisheit, der tritt dem bösen Tier in die Eier.
Wohingegen man die Zeitungen lieber gar nicht aufschlägt. Da geht es nicht mehr
um Nachrichten, sondern um die Auflistung besonders krasser Verbrechen, die
einem das Herz im Leibe gefrieren lassen und Wasser auf die Mühlen der
öffentlichen Meinung kippen: Jüngsten Umfragen zufolge ist die Allgemeinheit
erstens für die Einführung öffentlicher Hinrichtungen im Falle der
Vergewaltigung ihrer Kinder und zweitens für die Scharia, die vorschreibt,
Dieben die Hand abzuhauen - wenn der noch mal kommt und will was klauen, weiß
er gar nicht womit. Neben Ihnen saß eine hässliche junge Frau, der überall
Haare wuchsen, wo keine hingehörten, und die nachts vor Sehnsucht nach Liebe verging,
sie las ein Buch über die Sekte der Sadduzäer. Sie schielten hinüber und
überflogen ein paar Zeilen, darin hieß es, die Sadduzäer seien der Ansicht
gewesen, dass weder mit ewiger Seligkeit für die Gerechten noch mit ewigen
Qualen für die Gottlosen zu rechnen sei, man dementierte das Dasein von Engeln
und von Dämonen wie auch die künftige Auferstehung der Toten. Na, dann sind wir
wohl die wahren Sadduzäer!, dachten Sie mit einem stillen Seufzer, da fuhr der
Zug schon in Podlipki ein. Durch das Fenster sah er flüchtig einen Hund im
Gleisbett liegen, den Kinder an die Gleise angebunden hatten; das, was von ihm
übrig war. Von der Bahnstation hätten Sie mit dem Bus weiterfahren können,
doch Sie beschlossen zu Fuß zu gehen und ein bisschen frische Luft zu
schnappen. Vor dem Fünfgeschosser angekommen, sahen Sie die Omas auf der Bank
neben dem Eingang sitzen, grüßten und dachten: Wenn ich eines Tages
totgeschlagen werde, dann sitzen die hier da und hecheln wie üblich die Einzelheiten
des Begräbnisses durch - was für ein Sarg und ob die Witwe ordentlich geheult
hat. Sie betraten das Haus, und anstatt wie sonst immer die Treppen
hinaufzujagen, um nicht die Gerüche aus den Ecken einatmen zu müssen, ließen
Sie sich Zeit beim Treppensteigen, Stufe um Stufe, wie ein
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