Schischkin, Michail
besaß. Das Kreuz auf der Kirchturmspitze war
mit Ketten gegen das Davonfliegen gesichert. Der Gottesdienst war schon vorbei,
Frauen in Kopftüchern hatten vor dem Durchgang zum Altar ein Seil gespannt und
wischten missmutig den verschmutzten Fußboden. Der Bettler in der Vorhalle
wusste, dass Kahlköpfige weniger bedacht werden, darum trug er beständig eine
Mütze. Im Wohnheim für behinderte Kinder klopfte die Erzieherin die Matratzen
im Mädchenschlafsaal ab, grub in Betten und wühlte in Nachtschränken auf der
Suche nach der verbotenen Wimperntusche, dabei hing die begehrte Schachtel an
einem Faden draußen unterm Fenster. Auf dem Markt wurden Senfgurken aus
Aquarien verkauft. Ein unrasierter Kaukasier polierte seine Äpfel mit einem
schmutzigen Lappen blank. In der Schule wurde Gogol durchgenommen. Der junge
Lehrer erklärte den Schülern, die Flucht der Nase sei eine Flucht vor dem Tod
und ihre Rückkehr ein Zurück zur alten Lebens- und Sterbensordnung. Ein
verliebtes Pärchen fuhr mit dem Bus ein Kind zeugen, aneinandergeschmiegt im
Gedränge, mit allen Fahrgästen auf dem hinteren Podest auf und nieder hüpfend -
zu Hause dann, mit der duftenden Kaffeemühle in der Hand, dachte sie: Mein
Gott, wie einfach es doch ist, glücklich zu sein! - während er beim Öffnen der
Sardinenbüchse, den Deckel auf den Schlüssel wickelnd, sich vorkam, als zöge er
das Uhrwerk dieser Welt auf. Doch außerdem musste jemand die Rinderhälften
ausladen, die reiffunkelnd im Kühlwaggon an den Haken hingen; drinnen frostiger
Nebel, ringsum die Glühbirne ein rauchig glimmender Lichtreifen. Und keiner in
der Stadt kannte mehr das Geheimnis der eng anliegenden weißen Beinkleider der
Leibkavallerie Seiner Majestät: Die musste man nämlich nass anziehen und am
Körper trocknen lassen. In Ihrer Verzweiflung begaben Sie sich zu einem
bekannten Philanthropen und Bürgerrechtler, nennen wir ihn den Wind, baten um
eine Audienz. Saßen im Vorzimmer, Ihre Finger trommelten auf das Kunstleder des
Koffers. Der Wind war der Einzige auf der großen, weiten Welt, der Ihnen helfen
konnte, die Wahrheit publik zu machen und das draußen grassierende Böse zu
bestrafen. Irgendwer musste doch in dieser Livesendung, im Beisein aller, dem Bösen
die Nadelspitze abbrechen! Aber so dachten wahrscheinlich viele, das
Wartezimmer saß voll mit irgendwelchen Flüchtlingen aus Zentralasien in
löchrigen, ausgeblichenen Umhängen. Es handelte sich um eine alte Villa, auf
die eine Petrolbank seit Langem ein Auge hatte. An den Decken viel antiker
Stuck - und dass Apollon, Gott der Künste, die Kinder der Niobe eins nach dem
anderen niederstreckte, wundert heutzutage keinen mehr, auch nicht, dass er die
Mutter zuletzt in Stein verwandelte, so war deren Leid ein Ende gesetzt. Das
Warten war allerdings umsonst: Der Wind verschwand auf geheimnisvolle Weise aus
seinem Büro, man fand seine Leiche im benachbarten Park, an einem Ast hängend -
da war es wieder, das allseits geliebte Mysterium des verschlossenen Raumes.
Und auch wenn sich die Presse in hilflosen Mutmaßungen über Mystik und
übersinnliche Mächte erging, die Sache war einfach: Drei Obdachlose, Ex-Panzersoldaten,
pikiert ob der vielen Blasphemien, die der Staat durch die Liberalen zu
erleiden hatte, wollten ein Zeichen der Rache setzen. Aufgrund besonderer
Kennzeichen - ihre faulenden Zahnstümpfe irrlichterten in der Dunkelheit -
wurden sie später unschwer wiedererkannt. Außerdem erzählten sie mit Vorliebe
davon, wie es Anfang 1938 in Leningrad auf einmal bergeweise Bananen gab. Und
einer von ihnen soll gesagt haben: Wenn man wüsste, dass es keinen Tod gibt,
dass man gar nicht stirbt, sondern nur »übergeht« in ein anderes Leben, also
gar nicht ernsthaft, sondern nur so »als ob«, dann fände er das unwürdig,
sterben müsse man in Würde, wie ein Mann, im Bewusstsein, dass es den Tod
wirklich gibt... Zugetragen hat sich die Sache jedenfalls so: Einer sah
zufällig im Vorbeigehen den Wind am offenen Fenster stehen und gab einen Schuss
aus einer alten Duellpistole ab; der Wind dachte seltsamerweise gerade an
Turgenjews Stiefel, die er vor vielen Jahren im Museum gesehen hatte. Die
Stiefel standen tot und verschrumpelt in der Vitrine, man mochte nicht glauben,
dass sie einmal gelebt, nach Fuß und Leder gerochen hatten, und nach der Jagd
hatte man Hafer hineingeschüttet, weil der die Feuchte herausholt, anschließend
wurden sie zum Lüften nach draußen getragen und eingeteert. Auf den
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